Aufklärung – zu hoch gepokert
„Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen“, war der Leitspruch des 2024 gefeierten Philosophen Kant. Ob er das nach 250 Jahren „Verstandesherrschaft“ noch postulieren würde, weiß ich nicht. In seiner „Kritik der reinen Vernunft“ räumt er selbst Grenzen ein. Trotzdem sieht er die Vernunft als Maß aller Dinge, und Religion toleriert er nur als eine Dienerin derselben. Zu glauben, die Vorstellung von Menschenwürde sei erst mit der Aufklärung in die Welt gekommen, ist angesichts der zweitausendjährigen Gottesebenbildlichkeit im Christentum tollkühne Ignoranz. Mangelnde Originalität unterstelle ich auch Kants moralischem Vermächtnis, dem „Kategorischen Imperativ“ (Was du nicht willst …). Die Aufklärung hat Rationalität nicht erfunden, nur vergöttert. Der Hl. Thomas von Aquin und seine „Denkfabrik“ (die Scholastiker) haben das gesamte Spätmittelalter damit auf Trab gehalten, Rationalität und Religiosität zu versöhnen. Eine allumfassende Weltsicht auf den eigenen Verstand zu gründen, schiene mir zu anmaßend und riskant. Ich setze auch nicht auf die Gehirnakrobatik von mitunter schrulligen, in ihrer hypothetischen Welt verhafteten Philosophen. Der Mensch ist entweder Geschöpf oder spielt sich selbst als Schöpfer auf – mit fatalen Folgen. Zehn Menschen haben zehn verschiedene „Vernünfte“. Das gilt schon für die Aufklärer-Philosophen selbst und erst recht für deren Vernunft-Volk: zu hoch gepokert, es droht Überforderung.
Gerald Grahammer, Lustenau