Hannes Androsch

Kommentar

Hannes Androsch

Vorarlberger Paukenschlag

Markt / 19.06.2015 • 22:30 Uhr

Vorarlberg wird als erstes Bundesland eine gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen und Ganztagsmodelle einführen. Weil man nicht weiter Talente verschleudern will, weil man der Realität der berufstätigen Mütter Rechnung trägt, weil man die bildungspolitischen Ergebnisse eines Vorarlberger Forschungsprojekts ernst nimmt. Ein Paukenschlag!

Im übrigen Österreich herrscht weiterhin bildungspolitischer Stillstand. Mit dem Bildungsvolksbegehren ist es zwar gelungen, die Notwendigkeit einer umfassenden Bildungsreform öffentlich bewusst zu machen. Die Mauer der Blockierer konnte aber noch nicht zum Einsturz gebracht werden. Jetzt gilt es sogar, die Errichtung einer neuen Bastion zu verhindern. Der Vorschlag, „Bildungsdirektionen“ in den Ländern einzurichten, klingt gut, ist aber der gefährliche Versuch einiger Landeshauptleute, ihre Oberhoheit über die Volks- und Pflichtschulen auf die Mittelschulen auszuweiten und die angepriesene Schulautonomie auszuhöhlen.

Als der kürzlich verstorbene Prof. Bernd Schilcher, ehemaliger steirischer Landesschulratspräsident und leidenschaftlicher Kämpfer für eine grundlegende Bildungsreform, davon erfuhr, erfasste ihn pures Entsetzen. „Um Gottes willen, die können das nicht.“

Die aktuelle Bildungsbilanz gibt ihm recht: Rund
80.000 der 15- bis 25-Jährigen sind ohne Schulabschluss, 25 Prozent der 15-Jährigen können nicht ausreichend lesen, schreiben oder rechnen, um eine Lehre beginnen zu können. Zudem müssen Eltern jährlich an die 150 Millionen Euro an Nachhilfekosten verkraften.

Bildungsarbeit beginnt bereits mit der Geburt. Daher benötigen wir ein modernes Bildungssystem: Ein sinnvolles frühpädagogisches Anbot, Ganztagsschulen mit pädagogischem Begleitpersonal, ein weitgehend autonomes Schulsystem, das Chancengleichheit gewährleistet und auf den Prinzipien Fördern und Fordern beruht. Gute Pädagog(inn)en sind Voraussetzung für guten Unterricht. Beim Zukunftsprojekt ganztägige Gesamtschule erst recht.

Wir brauchen einen nationalen bildungspolitischen Schulterschluss! Sonst drohen steigende Jugendarbeitslosigkeit und weiterhin ein Absinken unserer Wettbewerbsfähigkeit. Die mutvolle Entscheidung in Vorarlberg ist ein Weckruf, der hoffen lässt.

Bildungsarbeit beginnt mit der Geburt. Daher benötigen wir ein modernes Bildungssystem.

markt@vorarlbergernachrichten.at
Dr. Hannes Androsch ist Finanzminister i. R. und Unternehmer.