Sitzen geblieben
Fast 400.000 Österreicher unterstützten vor zehn Jahren das Volksbegehren Bildungsinitiative (VBBI). Unter dem Motto „Österreich darf nicht sitzen bleiben“ wurde eine umfassende Bildungsreform gefordert, denn schon damals war klar, dass unser Bildungssystem in der „Kreidezeit“ steckengeblieben war.
Passiert ist … NICHTS, jedenfalls nichts in Richtung Zukunft. Im Gegenteil: Die Maßnahmen der vergangenen Jahre – Wiedereinführung des „Sitzenbleibens“, Ziffernnoten ab der zweiten und „Kompetenzmessung“ in der dritten Schulstufe, umstrittene Deutschförderklassen – waren nach Ansicht der Bildungsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger eine „Rolle rückwärts statt Innovation nach vorne“. Und trotz der zunehmenden digitalisierten Welt mangelt es an zeitgemäßen pädagogischen Konzepten und innovativen Ideen. Gleichzeitig krankt das Schulwesen an Bürokratie, falsch verstandenem Föderalismus und am Festhalten an überholten Modellen.
Nun hat auch noch Covid Schäden hinterlassen. Lernrückstand, vielfach sogar Lernausfall haben eine beschädigte Generation C(orona) geschaffen – mit verheerenden Langzeitfolgen. So hat sich v.a. die schon bisher gravierende soziale Ungleichheit noch weiter verschärft – zum Schaden aller angesichts der Tatsache, dass in einem rohstoffarmen Land die Talente aller Jugendlichen der wichtigste Rohstoff sind.
Angesichts dessen braucht es Sofortmaßnahmen, etwa das Schulfach „Digitales Lernen“, individuelle Lernangebote im Falle neuerlicher Schulschließungen, Lernangebote in den Sommerferien und die Neuausrichtung der Deutschförderung.
Zudem ist die Umsetzung der vom Bildungsvolksbegehren geforderten Maßnahmen überfällig. Es braucht eine digitale Nachrüstung der Schulen, verbunden mit verpflichtender Weiterbildung der Lehrpersonen, Entrümpelung der Lehrpläne, mehr Begleitpersonal, eine Aufwertung der Elementarpädagogik, eine leistbare ganztägige frühkindliche Betreuung und verschränkten Ganztagsunterricht. Vor allem aber müssen wir endlich Abschied nehmen vom Bildungsmodell des Industriezeitalters, welches davon ausging, dass Kinder im gleichen Alter auch die gleichen Leistungen erbringen sollen, ohne Rücksicht, dass sich jedes Kind individuell entwickelt. Wir müssen endlich auch Abschied nehmen vom Selektionsgedanken, der vorgibt, sich an den Leistungen der Kinder zu orientieren.
Vor einem Jahrzehnt haben wir gefordert: Österreich darf nicht sitzen bleiben. Mit Sorge müssen wir nun feststellen: Österreich IST sitzen geblieben.
„Lernrückstand, vielfach sogar Lernausfall haben eine beschädigte Generation C(orona) geschaffen.“
Hannes Androsch
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Dr. Hannes Androsch ist Finanzminister i. R. und Unternehmer.
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