Blonser Lawinendrama geschah für Marlis immer „erst gestern“

Menschen / 06.01.2024 • 07:00 Uhr
Blonser Lawinendrama geschah für Marlis immer „erst gestern“
Marlis Jenny-Bruggmüller vergisst die Lawinenkatastrophe in Blons nie. Sie erlebte die schickshalshaften Tage als siebenjähriges Mädchen. VN/Paulitsch

Vor 70 Jahren schlug der weiße Tod erbarmungslos zu. Marlis Jenny-Bruggmüller und die ewigen Erinnerungen.

Blons Marlis Jenny-Bruggmüller ist 77 Jahre alt und in bewundernswerter Verfassung. „In zwei Leben teilen sich diese 77 Jahre“, sagt die in Nüziders lebende Blonserin. „Es gibt das kurze Leben vor der Leu, und jenes danach.“

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Die „Leu“, Dialektwort für Lawine, hat das Leben der Tochter des früheren Volksschuldirektors für immer geprägt. Es waren mehrere davon, die zwischen dem 10. und 12. Jänner 1954 in Vorarlberg für unermessliches Leid und 122 Todesopfer sorgten. Mittendrin die kleine Marlis. Viele Male hat sie ihre Geschichte bereits erzählt. Doch bei jeder Erzählung werden die traumatischen Ereignisse von früher wieder aufwühlend frisch und unmittelbar. „Es ist, als ob alles erst gestern passiert sei“, sagt die Zeitzeugin.

„Leusorg“, heißt das Buch, das Marlis’ Vater Eugen Dobler über den Lawinenwinter 1954 in Vorarlberg schrieb. Zu kaufen gibt es das Werk im Puppen- und Spielzeugmuseum Blons.
„Leusorg“, heißt das Buch, das Marlis’ Vater Eugen Dobler über den Lawinenwinter 1954 in Vorarlberg schrieb. Zu kaufen gibt es das Werk im Puppen- und Spielzeugmuseum Blons.

Vom Frühling in den Horror

Die Geschichte des ultimativen Winter-Horrors beginnt mit Frühlingsgefühlen. „Fast den ganzen Dezember war es ungewöhnlich warm. Überall wuchsen Blumen. In der Schule stellten wir dem Lehrer noch einen Strauß auf sein Lehrerpult.“ An Heiligabend schließlich die ersten Schneeflocken. „Aber da kamen vielleicht 30 Zentimeter zusammen. Wir freuten uns.“

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Diese Freude wiederholt sich auch am Samstag, den 9. Jänner 1954. Es schneit zuerst leicht, dann immer stärker. „Es kam ein Schneesturm dazu. Tags darauf hatte es bereits einen Meter. Viele Blonser gingen nicht mehr zur Kirche und auch nicht ins Wirtshaus. Die Schneedecke wurde größer und größer. Und auch die Angst wuchs.“

Aus dieser Richtung kamen 1954 die todbringenden Lawinen. Die bewaldete Bergspitze links ist der Mont Calv, der Berg rechts der Falvkopf. In Blons starben damals 57 Menschen.
Aus dieser Richtung kamen 1954 die todbringenden Lawinen. Die bewaldete Bergspitze links ist der Mont Calv, der Berg rechts der Falvkopf. In Blons starben damals 57 Menschen.

Am Montagfrüh liegen bereits zwei Meter. „Der Schnee war so leicht und pulvrig, dass es jede Fußspur sofort verwischte“, weiß Marlis. Ihr Vater erkennt die Gefahr. Er verlässt mit Frau und Kindern das Haus, bringt die Familie ins Schulhaus. Schwester und Mutter lassen sich nicht zum Verlassen ihres Heimes bewegen.

Die VN-Berichte über das Ereignis selbst und zu den runden Jahrestagen hat Marlis Jenny-Bruggmüller in ihrem Puppenmuseum aufbewahrt.
Die VN-Berichte über das Ereignis selbst und zu den runden Jahrestagen hat Marlis Jenny-Bruggmüller in ihrem Puppenmuseum aufbewahrt.

Nichts wie weg aus dem Haus

„Später war dem Papa auch das Schulhaus zu unsicher. Wir zogen ins Bickelhaus“, erinnert sich Marlis. Die Lawinentragödie nimmt indes ihren Lauf. Um 10.05 kommt die Falvkopflawine. Marlis vergisst die Bilder und die Stimmung nicht. Wie die Helfer Verletzte und Flüchtende ins Dorf schleppen. Ihre Hiflosigkeit bei der Suche nach Verschütteten. Am frühen Abend hören sie ein Grollen. Die gefürchtete Mont-Calv-Lawine donnert in den Ort. Wieder verlassen Männer den sicheren Zufluchtsort, um mit untauglichen Mitteln in den Schneemassen Leben zu retten. Das Mädchen muss mit eigenen Augen sehen, wie Tote auf Schlitten herangeschleppt werden. Es werden immer mehr davon. Man legt die Toten in die Gänge der Kirche.

Blonser Lawinendrama geschah für Marlis immer „erst gestern“
Die Toten der Blonser Lawinen wurden in den Gängen der Kirche aufbewahrt. Gemeinde Blons

Unauslöschliche Bilder

„Mein Papa hat mit anderen die Toten nach Familienzugehörigkeit zusammengelegt“, erzählt Marlis. Nie vergisst sie die gespenstische Stimmung unter den Überlebenden und Helfern. „Es hat niemand geweint. Alle, die konnten, haben wie in Trance das getan, was sie tun mussten.“

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Tief in Herz und Seele eingegraben haben sich bei Marlis Jenny-Bruggmüller vor allem zwei Erinnerungen. „Nie kann ich das vergessen, wie Benedikt Türtscher sein totes Söhnchen in den Armen hielt, unmittelbar vor mir. Nie vergesse ich auch ein Nachbarmädchen, das als einziges Mitglied seiner Familie von der Lawine weggerissen und nie mehr gefunden wurde. Sie war meine Freundin. Alle anderen überlebten.“

Marlis’ Puppe von damals. Papa Eugen holte sie am 11. Jänner 1954 unter Lebensgefahr aus dem verlassenen Haus. Sie war dort bei der Flucht vergessen worden.
Marlis’ Puppe von damals. Papa Eugen holte sie am 11. Jänner 1954 unter Lebensgefahr aus dem verlassenen Haus. Sie war dort bei der Flucht vergessen worden.

Marlis Jenny-Bruggmüller, die damals Dobler hieß, wurde zuerst drei Monate nach Bregenz gebracht. Später lebte sie mit ihrer Familie ein Jahr in der Haushaltungsschule, ehe Vater Eugen an einem sicheren Ort ein neues Haus baute. Das alte hatte eine der todbringenden Lawinen vollständig zerstört. Es damals in der Früh des 11. Jänner zu verlassen, war die völlig richtige und lebensrettende Entscheidung.