“Der Hitler hat deine Schwester geholt”

Menschen / 04.05.2025 • 08:00 Uhr
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Ilse Bechter mit ihren Töchtern Anja (links) und Carmen. kum

Ilse Bechter hatte eine Schwester, die taubstumm war. Maria Rosa wurde nur acht Jahre alt. Sie fiel dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer.  

Krumbach Ilse Bechter (81) ist das jüngste Kind eines Landwirte-Ehepaares aus Lingenau. Sie wuchs nicht bei ihren leiblichen Eltern Isabella und Otto Bechter auf, sondern bei ihrer kinderlosen Tante Maria Stenzel und deren Mann Josef. „Meine Eltern gaben mich in die Obhut meiner Tante, weil sie glaubten, dass ich dort besser aufgehoben bin als auf der Alpe.“

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Ilses beeinträchtigte Schwestern Isolde, Karoline und Paula (von links).

Ilse hatte noch fünf ältere Schwestern. „Gertrud, die ein Jahr älter war als ich, starb als Säugling auf der Alpe“, erzählt Ilse. Ihre Schwestern Paula, Karoline und Isolde waren geistig beeinträchtigt. Ilses älteste Schwester, Maria Rosa, war taubstumm.  Sie wurde nur acht Jahre alt. Maria Rosa starb 1943. In diesem Jahr wurde Ilse geboren. „Meine leibliche Mutter und meine Ziehmutter haben nie über Maria Rosa gesprochen. Ich wusste lange nicht, dass es sie gab.“

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Isolde, Karoline und Paula warten auf den Bus.

Ab dem Alter von 14 Jahren arbeitete Ilse im Café ihrer Zieheltern. Eines Tages kam ein Gast auf sie zu und meinte zu ihr: „Der Hitler hat deine Schwester geholt.“ Ilse war konsterniert. Sie dachte sich: „Was redet der für einen Blödsinn.“ Zu Hause sprach sie mit ihrer Ziehmutter über den Vorfall. „Mama sagte, dass Maria Rosa im Spital an einer Lungenentzündung gestorben ist.“ Doch das entsprach nicht der Wahrheit.

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Ilse Bechter und ihre Schwestern Isolde und Paula legen Blumen neben Maria Rosas Stolperstein.

Maria Rosa fiel der „Aktion T4“ zum Opfer. “Aktion T4” war ein staatlich organisiertes Mordprogramm im nationalsozialistischen Deutschland. Es lief offiziell von 1939 bis 1941, wurde danach aber inoffiziell weitergeführt. Ziel der Aktion war es, Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderungen systematisch zu töten – aus ideologischen und wirtschaftlichen Gründen. Die Nazis bezeichneten diese Menschen abwertend als “lebensunwertes Leben”. Die Tötung erfolgte in Tötungsanstalten durch Gas und in psychiatrischen Spitälern durch tödliche Medikamentengaben, verhungern lassen oder Spritzen. Die Aktion T4 gilt als Vorläufer des Holocaust. Techniken und Personal wurden später in den Vernichtungslagern eingesetzt.

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Einer der Stolpersteine vor dem Kloster Irsee erinnert an Maria Rosa Bechter.

Der Amtsarzt des Kreises Bregenz, Dr. Theodor Leubner, untersuchte Maria Rosa Bechter und zeigte sie beim Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erforschung von erb- und anlagebedingten Leiden in Berlin an. Aufgrund dessen wurde das achtjährige Mädchen aus Lingenau 1942 in die Heilanstalt Kaufbeuren-Irsee in Deutschland eingewiesen. Dort wurde Maria Rosa am 8. März 1943 im Zuge der Aktion T4 ermordet. Aus den letzten Einträgen im Krankenblatt geht hervor, dass das Kind mit dem Schlaf- und Beruhigungsmittel Luminal aktiv getötet wurde.

Ilse erfuhr erst im Jahre 2009 vom Schicksal ihrer ältesten Schwester. Damals wurde vor dem Kloster Irsee ein Stolperstein für Maria Rosa Bechter verlegt. Stolpersteine sind kleine, im Boden verlegte Gedenktafeln aus Messing, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern.

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Nach der Verlegung des Stolpersteins vor dem Kloster Irsee erinnert Ilse Bechter an das Schicksal ihrer Familie.

Ilse, eine tiefgläubige Katholikin, glaubt, dass sie nach ihrem Tod ihre verstorbenen Lieben im Himmel wiedersehen wird. „Ich freue mich darauf, meine Schwestern Maria Rosa und Gertrud kennenzulernen.“ Ihrer Überzeugung nach wird sie dann auch wieder ihrem Mann Manfred und ihren anderen Schwestern begegnen. Zu Paula, Isolde und Karoline hatte Ilse eine besonders innige Beziehung. „Mein Mann und ich nahmen sie nach dem Tod meines leiblichen Vaters im Jahr 1975 bei uns auf. Wir haben für sie den Dachboden ausgebaut.“ Ilse hatte damals alle Hände voll zu tun, war sie doch auch Mutter von sieben Kindern. Die beeinträchtigten Schwestern blieben bis zu ihrem Lebensende bei Ilse. „Sie starben bei uns zu Hause. Karoline habe ich nach einem Hirnschlag noch einige Jahre gepflegt.“ Im Rückblick auf ihr Leben empfindet Ilse Bechter Zufriedenheit. „Ich bin nicht umsonst hier gewesen.“  

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Sechs Lingenauer wurden in der Zeit von 1941 bis 1945 Opfer des Nationalsozialismus. Im Jahr 2011 wurden ihnen zu Ehren sechs Stolpersteine vor dem Lingenauer Friedhof verlegt. Einer davon erinnert an Maria Rosa Bechter. Im Bild: Ilse Bechter und ihre Schwestern Isolde und Paula vor dem Stolperstein.