Ein treuer Diener seines Herrn

Der findige Schlosser Matthäus Zängerle (1860–1925).
Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken
herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon –
Wer baute es so viele Male auf? In welchen Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die
Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die
Chinesische Mauer
fertig war, die Maurer?
Das trojanische Pferd war eine strategische Meisterleistung.
Wer hat es gebaut?
[…]
In seinem Gedicht „Fragen eines lesenden Arbeiters“ (1935) thematisiert Bertold Brecht die Verdienste jener namenlosen Akteure, ohne deren Leistungen große Monumente und große Männer nicht als solche in die Geschichte eingegangen wären. Hier soll auch ein Mann gewürdigt werden, der im Schatten eines bedeutenden Erfinders zu dessen Ruhm still und unerkannt, aber wesentlich beigetragen hat.
Die Jahre zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg waren für die Kennelbacher Textilfirma Jenny & Schindler eine Zeit hervorragenden Geschäftsgangs und bedeutender Investitionen. So wurde der gesamte Maschinenpark in der Spinnerei und der Weberei erneuert. Die neuen Anlagen mussten jeweils mühsam aufgestellt und eingerichtet werden. Angesichts der ausgezeichneten Ertragslage wurde 1910 ein letzter bedeutender Investitionsschub vorgenommen. Nach einer kommissionellen Prüfung durch die Bezirkshauptmannschaft Bregenz erhielt die Kennelbacher Firma die Genehmigung „zur Neuerstellung der Turbinenanlage und Einrichtung des elektromotorischen Einzel- und Gruppenantriebes“ in beiden Fabriken. Einem der drei Teilhaber, nämlich Friedrich Schindler (1856–1910), war der Einsatz der elektrischen Energie nicht nur ein besonderes Anliegen, sondern auch eine technische Errungenschaft von vitalem Interesse. Im Sommer 1893 gewährte der Unternehmer den staunenden Mitgliedern des Vorarlberger wissenschaftlichen Clubs einen Einblick in die Fabrik und in sein elektrifiziertes Wohnhaus, das er mit elektrischem Licht, elektrischen Küchengeräten, einem Elektroherd, einer Staubsaugeranlage und einer elektrischen Heizung eingerichtet hatte. Am Ende bedankte sich der Clubpräsident ehrfurchtsvoll mit den Worten: „Sie haben uns ein Stück des 20. Jahrhunderts sehen lassen.“ Tatsächlich sollte der elektrische Strom das Leben im 20. Jahrhundert grundlegend verändern.

Der praktische Mann hinter dem genialen Erfinder war der Schlosser Matthäus Zängerle. Er war wie schon sein Vater als Zwölfjähriger im Jahr 1872 in die Kennelbacher Fabrik eingetreten und blieb der Firma bis zu seinem Tod am 7. Jänner 1925 treu. In diese gut 52 Jahre fallen die umfassenden technischen Neuerungen in den beiden Schindler-Betrieben und die umwälzenden Erfindungen seines Chefs. Ab etwa 1885 war Zängerle bei diesen epochalen technischen Neuerungen an vorderster Stelle tätig, ohne aber für die Nachwelt sichtbar geworden zu sein.
Als Matthäus Zängerle als armes Arbeiterkind in der Fabrik zu arbeiten begann, war das Reichsvolksschulgesetz von 1869 bereits in Kraft. Ab nun hatten alle Kinder bis zum 14. Lebensjahr die Schule zu besuchen. Für die Unternehmer gab es hier wie andernorts auch Schlupflöcher. Betriebe, die eine Fabrikschule einrichteten, durften Kinder bereits mit zwölf Jahren einstellen. Diese mussten nach einem achtstündigen Arbeitstag noch drei Stunden zum Unterricht. Nach verschiedenen sogenannten Kinderarbeiten in der Spinnerei nahm sein gleichnamiger Taufpate den Jugendlichen zu sich in die betriebseigene Schlosserwerkstatt. Hier lernte der junge Zängerle den Maschinenpark – allein die Weberei verfügte über 300 mechanische Webstühle – und die Kraftanlagen nicht nur kennen, sondern auch zu reparieren. Aufgrund seiner schnellen Auffassungsgabe, seines technischen Interesses und handwerklichen Könnens sowie seiner Zuverlässigkeit wurde er Jahre später Nachfolger seines Onkels als Betriebsschlossermeister. Damit war sein Arbeitsgebiet aber nur unvollständig beschrieben. Er war auch oberster Elektriker und Leiter der Reparaturwerkstätte.
Im Gegensatz zu seinem Bruder, der im Dorfleben als Gemeindevertreter und kurzzeitig als Bürgermeister, als Schütze und Blasmusiker eine sehr aktive Rolle spielte, widmete sich Matthäus Zängerle, abgesehen von einer kurzen Funktionärstätigkeit im Konsumverein und einer frühen Teilnahme an der Blasmusik, ausschließlich seiner Firma, den Wünschen seines Chef und seiner Familie. 1893 hatte er Agnes Schultheis aus Sigmaringen geheiratet. Sie war im Haushalt der Schindler-Villa beschäftigt. Die Fabrikantenfamilie beschäftigte im Haus ausschließlich junge Frauen von auswärts, da man keinen Kennelbacherinnen Einblick ins Familienleben gewähren wollte.
Im Keller des Erfinders
Gleich nach dem Bezug seiner „Villa Grünau“ im Jahr 1887 richtete Schindler im Keller des Hauses ein Versuchslabor, eher eine Werkstatt, ein. Nach der Arbeit im Chefbüro der Fabrik habe er hier nächtelang an seinen Erfindungen getüftelt. Aber selten allein. Sein Betriebsschlosser Zängerle hatte ebenfalls den ganzen Tag in der Fabrikschlosserei schwere Arbeit verrichtet und war des Nachts und an Sonntagen der verlängerte Arm des Meisters im Keller der Villa. Dort konnte auch tatsächlich in der Nacht gearbeitet werden, da die Villa mit elektrischem Licht ausgestattet war. Alles, was sich Schindler an neuen Anwendungsmöglichkeiten für elektrischen Strom erdachte und konstruierte, wurde nun von Matthäus Zängerle ausprobiert und als Prototyp gefertigt. Dabei ging es hauptsächlich um den Bau von elektrothermischen Geräten aus disponibler Wasserkraft. Nach ausführlichen Versuchen mit unterschiedlichen Materialien gelangten die beiden zu einer Bauart, nach welcher Widerstandsdrähte erst in Schamottsteine, dann aber in platzsparendes keramisches Material, das hohe Temperaturen ertrug, eingebettet wurden. Der Keramikkörper wurde mit Metall umgossen. Das war der Schlüssel zur Umwandlung elektrischen Stroms in Wärme. Mit diesem Prinzip experimentierte Zängerle an unterschiedlich geformten Bügeleisen in verschiedenen Größen, bis schließlich die eingesetzte Energie in einem günstigen Verhältnis zur erzeugten Wärme stand. Nun wurden vom gelehrigen Schlosser Prototypen für Herdplatten und Heizungen hergestellt, die dann industriell gefertigt werden konnten. Für den Villenhaushalt installierte Zängerle nach Plänen des Hausherrn zudem eine zentrale Staubsaugeranlage mit Anschlüssen in allen Zimmern. Die endgültigen, marktgerechten und patentierten Geräte wurden schließlich in verschiedenen metallverarbeitenden Firmen in der Schweiz und in Vorarlberg hergestellt. 1893 konnte Friedrich Schindler seine „elektrische Küche“ auf der Weltausstellung in Chicago vorstellen und damit außerordentliche Beachtung finden. Weder in den Patentpapieren noch an den Apparaten schien der Name des praktischen Umsetzers auf. Die Kopfarbeit stand in hellem Licht, das Handwerk dahinter blieb im Schatten. In seinem Nachruf in der Vorarlberger Landes-Zeitung wird immerhin erwähnt, dass mit Zängerles Namen die „erste Erstellung elektrischer Heiz- und Kochapparate in Vorarlberg verknüpft“ sei. Und weiter: Als Schindler daran ging, „die Verwendung der elektrischen Energie für Heiz- und Kochzwecke zu studieren und in die Tat umzusetzen, bediente er sich dabei in den ersten Jahren fast ausnahmslos Zängerles“.

Als nach 1900 die elektrotechnische Forschung und die Fertigung von Geräten in die eigens gegründete Firma Elektra Bregenz verlegt wurden, war die Mission von Matthäus Zängerle im Keller der Villa zu Ende. Immerhin hatte er dort seine Frau kennengelernt.
Ab nun war er wieder ganz der Betriebsschlosser, der eine umfangreiche Reparaturwerkstätte leitete und den technischen Gesamtüberblick über beide Fabriken behielt. Dabei zeichneten ihn neben „vorbildlicher Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit“ Fachkompetenz und Umsicht aus. „Kein Wetter war ihm zu schlecht“, wurde ihm nachgesagt, „keine Nacht zu kalt, um ihn von seinen Obliegenheiten abzuschrecken, und unzählige Stunden hatte er in der feuchtkalten Turbinenkammer zugebracht. Man kann wohl sagen, dass er jedes Rad und jede Leitung, betreffe sie Dampf, Wasser oder Elektrizität, in dem ausgedehnten Betrieb kannte.“
Im Sommer 1922 wurde Matthäus Zängerle von der Firmenleitung für seine 50-jährige Betriebstreue geehrt und mit einem „wertvollen Geschenk“ bedankt. Noch nicht 65 Jahre alt, starb der vordem „kräftige Mann“, umsichtige Schlossermeister und findige Realisator der Ideen seines Chefs. Vergeblich hoffte er, dass ihm eine Operation in der Innsbrucker Klinik Heilung von seiner „qualvollen Krankheit“ verschaffen würde. „Reichtümer zu sammeln“, sei dem unermüdlichen Arbeiter trotz seiner Fähigkeiten und Erfolge nicht vergönnt gewesen, resümierte der Nachrufer in der Landes-Zeitung.