Kolumne: Der Saphir
„Der Saphir“, sagte die Großmutter zu ihrer Lieblingsenkelin „ist der Edelstein des Himmels, er steht für Weisheit und Treue.“ Dabei schaute sie ihr tief in die Augen.
Die Schwester stand dabei und wurde nicht beachtet, was ihr ins Herz stach. Nur weil sie nicht so scheinheilig schauen konnte. Die Großmutter nahm die Brosche mit dem blauen Stein aus der Schatulle und gab ihn ihrer Lieblingsenkelin. Die steckte ihn sogleich an ihren roten Pullover.
„Lass mich den Stein noch einmal berühren“, sagte die Großmutter. Sie wusste, sie würde nicht mehr lang leben, und mit der Berührung des Steins dachte sie an die Stunde, in der sie von ihrem Geliebten, damals, damals, diese wunderbare Brosche geschenkt bekommen hatte. Es war nichts aus der Liebschaft geworden, nur der Saphir war geblieben.
„Ich kann dir die Brosche einmal leihen, wenn du erst einen Freund hast“, zischte das Mädchen der Schwester ins Ohr.
Wieder eine Kränkung!
Die Mutter versorgte den Stein in ihrem Schmuckkästchen.
Jahre vergingen.
Die beschenkte Enkelin vergaß den Stein, auch als sie schon ihren ersten Schatz küsste. Ihre Schwester aber, die noch voller Sehnsucht war, vergaß den Stein nie. Sie war verliebt in ihren Deutschlehrer. Einmal schlich sie sich in das Schlafzimmer ihrer Eltern und nahm die Brosche mit dem Saphir aus dem Schmuckkästchen. Sie steckte sie kurz vor der Deutschstunde an ihre weiße Bluse und schaute begierig, ob der Lieblingslehrer sie bemerkte. Es gab keine Anzeichen.
Nach dem Unterricht nahm sie die Brosche wieder ab. Sie überlegte, wo sie die Brosche zu Hause verstecken sollte. Zurück in das Schmuckkästchen wollte sie den Saphir nicht geben.
Sie warf die Brosche in einen Gulli.
Die Mutter bemerkte den Verlust des Saphirs und fragte ihre Mädchen. Keine wusste, wo der Stein geblieben war. Vielleicht könnte man mit einer Kanalkamera in den Gulli schauen, dachte sich das Mädchen mit schlechtem Gewissen. Aber sie suchte mit und tat, als habe sie nicht die geringste Ahnung. Sie kroch unter das Ehebett ihrer Eltern, sie konnte das, weil sie so dünn war.
Immer wieder später erinnerte sie sich an den Saphir und hatte sich oft gedacht, ob sie das jemals jemandem erzählen sollte. Als alte Frau saß sie mit Freundinnen in einem Kaffeehaus, und da sagte eine von ihnen: „Wer von euch erzählt das allertiefste Geheimnis?“
Da erzählte sie ihre Geschichte.
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.
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