Keine Liebesaffäre
Ganz Europa, ja die Welt schüttelt den Kopf über die tragikomische Brexit-Farce. Das skurrile Geschehen ist kaum verständlich ohne Blick auf die Anfänge des chronisch gequälten Verhältnisses zwischen London und Brüssel, dessen rhetorischer Tief- oder Höhepunkt mit jenem grandiosen dreifachen “no!” erreicht wurde, das Premierministerin Thatcher Ende Oktober 1990 im Unterhaus dem EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors entgegenschleuderte, als dieser Ideen in Richtung eines europäischen Superstaats äußerte.
“Da mischte sich Überheblichkeit mit längst unrealistischen imperialen Träumereien.”
Erinnern wir uns: England hatte den Krieg gewonnen, doch den Frieden verloren. Die besiegten faschistischen Mächte Deutschland und Japan boomten, Großbritannien steckte in einer tiefen wirtschaftlichen Krise – und fühlte sich gedemütigt. Es träumte von einer Union der englischsprechenden Nationen unter britischer Führung als Gegengewicht zu Kontinentaleuropa. Da mischte sich Überheblichkeit mit längst unrealistischen imperialen Träumereien.
Zum Treffen der sechs Gründerstaaten der Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Signatarstaaten der Römer Verträge von 1957 – historische Grundlage der späteren EU) in Messina am 7. November 1955 hatte London bloß einen Unterstaatssekretär namens Bretherton entsandt, der die Gespräche mit eisigen Schweigen und ostentativem Desinteresse mitverfolgte und am Ende lediglich dies zu sagen hatte: “Der künftige Vertrag, über den Sie da diskutieren, hat keine Chance, abgeschlossen zu werden. Und falls doch, dann keine Chance, ratifiziert zu werden. Falls er ratifiziert wird, hat er keine Chance je verwirklicht zu werden. Und wenn er dennoch verwirklicht werden sollte, dann wäre er vollkommen inakzeptabel für Großbritannien.” Er schloss mit dem knappen Satz: “Herr Vorsitzender, meine Herren, auf Wiedersehen und viel Glück”.
Doch das war bekanntlich nicht das letzte Wort Londons, das sich dann – im Schatten des Vetos von de Gaulle – 1969 erfolgreich um die Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Gemeinschaft bewarb, die am 1. Januar 1973 in Kraft trat, von den britischen Wählern nachträglich bestätigt (67 Prozent) im Referendum vom Juni 1975. Doch sieben der 23 Kabinettminister waren dagegen. Immer mit einem Hauch postimperialer Selbstüberschätzung bezeichnete das Weißbuch den Beitritt als “Angelegenheit von historischer Bedeutung nicht nur für uns, sondern für Europa und die ganze Welt”.
Der irische Autor Fintan O’Toole (“Heroic Failure”) vergleicht diesen allerdings mit einem “mürrischen alten Herrn, der wohl oder übel in eine unvorteilhafte Ehe einwilligt, zumal die Alternative ein langsamer Tod in Misere und Einsamkeit wäre”.
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).
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