Beim Impfen die Nase vorn

Erfolgreiche Strategie und Unverständnis über EU-Kurs nützen britischem Premier Johnson.
LONDON, BRÜSSEL Großbritannien hat in der Pandemie bereits mehr als 126.000 Todesopfer verzeichnet – eine der höchste Corona-Todesraten der Welt. Die zuerst in England entdeckte infektiösere Virusmutation B.1.1.7 trieb die Zahl der täglichen Neuinfektionen deutlich nach oben. Lange musste sich die britische Regierung und Premierminister Boris Johnson im Umgang mit Corona viele Vorwürfe gefallen lassen. Doch nun könnte sich das Blatt wenden. Denn anders als in der Europäischen Union nahm die Impfkampagne rasant an Fahrt auf. Zudem dürfte die britische Regierung vom Streit mit der EU um den AstraZeneca-Impfstoff profitieren. „Es gibt nun natürlich eine gewisse Post-Brexit-Schadenfreude“, sagt Politologin Melanie Sully, die in Wien das Go Governance-Institut betreibt. „Es lässt sich auch nicht übersehen, dass Großbritannien beim Impfen erfolgreicher ist.“ Bisher erhielten im Vereinigten Königreich über zehn Millionen Menschen ihre erste Impfdosis. Davon ist Österreich noch weit entfernt.
Zunehmend rege sich in Großbritannien auch Unverständnis und Verwirrung über den Kurs der EU, erklärt die Expertin. Das sei bemerkenswert, da Brüssel in den Brexit-Gesprächen nach Einschätzung Sullys besser verhandelt habe. „Doch in der Pandemie scheint die EU nicht wirklich koordiniert zusammenzuhalten.“
Impfpläne durcheinandergewirbelt
Die EU musste im Impfprogramm zuletzt herbe Rückschläge einstecken. Dass AstraZeneca wegen Produktionsproblemen weitaus weniger Impfdosen im ersten Quartal nach Europa liefert als zugesagt, wirbelte die Pläne in den Mitgliedsstaaten durcheinander. Zwischen dem Hersteller und der EU-Kommission entbrannte ein offener Streit. Der Verdacht: Nicht-EU-Länder wie Großbritannien werden bevorzugt und bekommen ungekürzte Lieferungen. Im Vereinigten Königreich gab es schon früher eine Notzulassung für AstraZeneca. Die EU reagierte mit Kontrollen für den Export von in der EU produzierten Corona-Vakzine in Drittstaaten. Dabei stand im Raum, dass sich die EU auf einen Notfallmechanismus im Brexit-Abkommen berufen könnte, um zu kontrollieren, ob und wieviel Impfstoff über die Grenze von Irland ins britische Nordirland gelangt.
Dabei hatten die Unterhändler in den Brexit-Gesprächen jahrelang darum gerungen, wie Kontrollen an der inneririschen Grenze unbedingt vermieden werden können. In der ehemaligen Bürgerkriegsregion sollte der Frieden keinesfalls gefährdet werden. Im Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags ist der britische Landesteil deshalb enger an die EU gebunden und folgt den Regeln des Binnenmarkts.
Im Impfstreit erwog die EU nun Artikel 16 im Nordirland-Protokoll zu aktivieren, der einseitige Schutzmaßnahmen bei unerwarteten negativen Auswirkungen der Einigung vorsieht. Die Empörung in London, in Belfast und auch in Dublin war groß. Schließlich musste Brüssel zurückrudern.
Fauxpas mit Folgen?
Politologin Sully spricht von einem Fauxpas mit potenziell gravierenden Folgen. Denn zukünftig wäre es möglich, dass auch in London die Berührungsängste vor einer Aktivierung des Artikel 16 sinken. Dann könnte im schlimmsten Fall eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland drohen. „Das überhaupt zu thematisieren, war ein Eigentor“, meint Sully.
Nun wurde zumindest vereinbart, dass EU-Kommissar Maros Sefcovic kommende Woche in die britische Haupstadt zu Gesprächen über Brexit-Schwierigkeiten in Nordirland reist. Beide Seiten bekannten sich zum Friedensprozess und zur „korrekten Umsetzung“ des Nordirland-Protokolls. London sagte der EU nach deren Rückzieher auch eine Zusammenarbeit bei der Verteilung von AstraZeneca zu. „Die britische Regierung kann jetzt Hilfe zusagen, sich großzügig geben“, glaubt Sully. Doch ob sich vor diesem Hintergrund so schnell gute und kooperative Beziehungen aufbauen lassen, sei fraglich. VN-RAM
„Es gibt in Großbritannien nun natürlich eine gewisse Schadenfreude nach dem Brexit.“