“Situation lässt Abschiebungen nicht zu”

UNHCR-Chef spricht sich gegen Rückführungen nach Afghanistan aus.
schwarzach Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ist das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen in Sorge um die Lage von Frauen und Mädchen. Das betont der Leiter des UNHCR in Österreich, Christoph Pinter. Im VN-Interview erklärt er außerdem, warum Rückführungen unrealistisch sind und Abschiebezentren in Nachbarstaaten keine Alternative darstellen.
Wie geht es den Menschen in den eroberten Gebieten?
pinter Noch ist es zu früh, um das sagen zu können. Grund zur Sorge gibt die Situation von Frauen und Mädchen. Wir haben Berichte erhalten, dass die Hälfte der zivilen Opfer Frauen und Mädchen sind. Ihre Bewegungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Sie dürfen ohne männliche Begleitung nicht in die Öffentlichkeit.
Wie viele Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben?
pinter Anfang des Jahres gab es an die 2,9 Millionen Binnenvertriebene. Ab 1. Jänner sind noch einmal 550.000 dazugekommen. Es geht nun darum, in den Regionen, wo die humanitäre Not am größten ist, Unterstützung zu leisten. In drei Viertel der Provinzen tut das der UNHCR, die Frage ist, ob das in Zukunft auch weiter möglich ist. Bisher sind in den Gebieten, die von den Taliban übernommen wurden, die UN-Einrichtungen größtenteils respektiert worden.
Wird damit gerechnet, dass eine große Zahl von Afghaninnen und Afghanen in die Nachbarländer flieht?
pinter Dazu fehlen aussagekräftige Zahlen. Allerdings sind Nachbarstaaten wie Pakistan und der Iran seit Jahrzehnten stark von Fluchtbewegungen aus Afghanistan betroffen. Rund 1,4 Millionen Menschen sind nach Pakistan geflüchtet, etwa 800.000 in den Iran.
Sind Prognosen seriös, wonach viele Flüchtlinge den Weg nach Europa suchen werden?
pinter Die überwiegende Anzahl von Geflüchteten bleibt in ihren Herkunftsregionen. Das verdeutlicht auch unser jüngster UNHCR-Bericht von Ende 2020. Fast drei Viertel der Flüchtlinge befinden sich in den jeweiligen Nachbarländern. Nur ein geringer Teil kommt nach Europa.
Die ÖVP will an den Abschiebungen nach Afghanistan festhalten. Ist das überhaupt realistisch?
pinter Nein. Die Situation lässt es nicht zu, dass man die Menschen wieder zurückbringt. Es ist praktisch auch gar nicht mehr möglich. Die Sicherheits- und Menschenrechtslage geben es nicht her. Durch den Machtwechsel ist völlig unklar, wer in Zukunft Ansprechpartner sein könnte.
Wären Abschiebezentren in den Nachbarstaaten eine Option, wie der Innenminister vorgeschlagen hat?
pinter Auch das lehnen wir klar ab. Die Nachbarstaaten Afghanistans zählen ohnehin zu jenen Ländern, die am meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. 90 Prozent aller afghanischen Flüchtlinge befinden sich in Pakistan und Iran. Die Argumentation, dass sie abgeschobene Personen aus Europa aufnehmen sollen, ist unsolidarisch. VN-RAM