Migrationsexperte Knaus: “Die Situation ist eine komplett andere als 2015”

Afghanistan: Experte sieht ein komplett anderes Szenario als vor sechs Jahren.
berlin Droht nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan eine neue Flüchtlingskrise in Europa? Mehrere Politiker warnten bereits vor einem Szenario wie 2015. Migrationsforscher Gerald Knaus widerspricht. Die Situation vor sechs Jahren lasse sich nicht mit jener heute vergleichen. Afghanische Nachbarländer müssten finanziell und durch Resettlement-Programme unterstützt werden. Den ÖVP-Vorschlag, dort Abschiebezentren einzurichten, hält der Leiter des Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) hingegen für absurd.
Streng kontrollierte Grenzen
„Man muss sich die Gründe ansehen, warum 2015 eine historische Anzahl von Menschen irregulär nach Europa gekommen ist“, erläutert Knaus im VN-Gespräch. „Mit dem Syrien-Krieg fand die größte weltweite Krise direkt an der Grenze statt. Syrerinnen und Syrer konnten damals visafrei in die Türkei einreisen. Die meisten blieben in dem Land, viele zogen weiter nach Europa. Heute ist die Situation komplett anders.“ Die Taliban, die Nachbarstaaten und die Türkei als wichtiges Transitland kontrollierten die Grenzen streng. Selbst Afghaninnen und Afghanen, denen als Ortskräfte eine Aufnahme in einem europäischen Staat zugesagt worden sei, könnten nur schleppend evakuiert werden. Manche schaffen es überhaupt nicht, auszureisen, erklärt der Experte. Klar sei: „Es zeichnet sich keine Massenmigration nach Europa ab. Wer Zahlen nennt, greift sie aus der Luft.“
Knaus hält es für möglich, dass viele Personen aus Furcht vor den Taliban versuchen, in die Nachbarländer zu gelangen. Dort befinden sich bereits viele afghanische Staatsbürger. „In Pakistan und dem Iran leben seit Jahrzehnten afghanische Flüchtlinge. Integrationsmöglichkeiten gibt es aber kaum.“ Laut UNHCR zufolge sind in der Vergangenheit 1,4 Millionen Menschen aus Afghanistan nach Pakistan geflüchtet, 800.000 in den Iran.

Abschiebezentren, wie sie Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) einrichten möchte, bezeichnet der Migrationsforscher als eine absurde Idee. „Der Iran nimmt nicht einmal Staatsbürger zurück. Es geht darum, dass Menschen, die Schutz brauchen, ins Land gelassen werden. Das wäre also ein komplett falsches Signal und politisch gar nicht umsetzbar.“ Viele Afghanen, die in Österreich lebten, blickten mit Sorge in ihr Heimatland. „In dieser Situation unseriöse Vorschläge zu machen und die Menschen weiter verängstigen, ist keine verantwortungsvolle Politik.“ Dass die ÖVP offiziell nicht von den Abschiebungen in das Krisenland abrücken möchte, bezeichnet Knaus als Realitätsverweigerung.
Der Experte meint: „Afghaninnen und Afghanen, die hier leben, und Verwandtschaft in Afghanistan haben, sollten die Möglichkeit zur Familienzusammenführung bekommen.“ Das deutsche Nordrhein-Westfalen habe vorgeschlagen, 1800 bedrohte Afghanen aufzunehmen, eine überschaubare Zahl bei rund 18 Millionen Einwohnern. „Wenn Nordrhein-Westfalen das kann, wo sich der christlich-soziale Ministerpräsident gerade im Wahlkampf befindet, dann wäre es in Österreich auch möglich, vielleicht 800 Menschen freiwillig aufzunehmen.“