Deutschland steht vor einer Richtungswahl

Politik / 23.09.2021 • 21:32 Uhr
SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz (l.) führt derzeit die Umfragen vor Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne) an.Reuters
SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz (l.) führt derzeit die Umfragen vor Armin Laschet (CDU) und Annalena Baerbock (Grüne) an.Reuters

Rennen um Platz eins ist noch nicht entschieden. Zweier-Koalition gilt als ausgeschlossen.

Wien Nur eins ist vor der Bundestagswahl am Sonntag in Deutschland sicher: Die Deutschen werden sich an ein neues Gesicht im Kanzleramt gewöhnen müssen. Das Rennen um die Nachfolge von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist allerdings noch offen. Gut 60 Millionen Stimmberechtigte sind am Sonntag aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen, dessen Abgeordnete dann den Regierungschef bestimmen. Für die CDU und deren bayerische Schwesterpartei CSU sieht es nicht gut aus. Das politische Pendel schlägt nach links.

Markus Rhomberg, Politikwissenschaftler und Geschäftsführer der Internationalen Bodenseehochschule, blickt mit den VN auf den Wahlkampf, die Wahl und deren möglichen Folgen.

Die Richtungswahl

Deutschland erlebt am Sonntag eine Richtungswahl, ist Rhomberg überzeugt. Denn es werde nicht nur einen neuen Kanzler geben, sondern ebenso eine neue Koalition. „Sowohl die Union als auch die SPD haben ausgeschlossen, als Juniorpartner in eine Koalition mit dem jeweils anderen zu treten.“ Rein rechnerisch ist die Zeit der Zweierkoalitionen ohnedies vorbei, da es den Umfragen zufolge drei Parteien für eine Mehrheit brauchen wird. Die Regierungsbildung dürfte sich daher kompliziert gestalten. „Deutschland hat keine Erfahrung mit einer Dreierkoalition. Die einzigen Verhandlungen, die es dazu gab, fanden 2017 zwischen Union, Grünen und FDP statt“, sagt der Politikwissenschaftler. Die Liberalen zogen sich damals aber zurück.

Die Kanzlerfrage: Olaf Scholz versus Armin Laschet

Die unentschlossenen Wähler könnten im Rennen um Platz 1 entscheidend werden. Aktuell liegt die SPD mit Olaf Scholz an der Spitze. Allerdings habe Unions-Spitzenkandidat Armin Laschet als Ministerpräsident noch Mobilisierungspotenzial in Nordrhein-Westfalen. Dort leben zwölf der 60 Millionen Wahlberechtigten. „Und die Zustimmungswerte für Laschet als Ministerpräsident sind nicht so schlecht“, sagt Rhomberg. Bei den Grünen, der FDP und AfD hätten sich die Werte gut eingependelt. „Die Linke kratzt an der Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Bundestag. Im Mittel der Umfragen liegt sie derzeit bei sechs, sieben Prozent.“ Das könnte knapp werden, wenn sich der Wahlkampf weiter auf die Großen konzentriere.

Ein Aufstieg, zwei Abstürze

Dass sich Umfragen derart drehen können, hat der Politologe bislang nicht erlebt: „Vor allem nicht in einem sehr stabilen Land wie Deutschland. Im April, Mai hätten wir noch die Frage besprochen, wie eine schwarz-grüne Koalition aussehen könnte.“ Diese ist angesichts der Umfragewerte längst vom Tisch. Der Höhenflug der Grünen Spitzenkandidatin Annalena Baerbock währte nur kurz. Unstimmigkeiten in ihrem Lebenslauf führten während des Wahlkampfs zu Kritik, ebenso fehlende Nebenverdienstmeldungen oder Plagiatsstellen in ihrem Buch. Die Union erreichte im Jänner, als Armin Laschet CDU-Vorsitzender wurde, in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen noch 37 Prozent (die SPD 15, die Grünen 20). Im April folgte der erbitterte Streit mit CSU-Chef Markus Söder um die Spitzenkandidatur, etwas später tauchten Plagiatsvorwürfe auf. Wahlkampfpatzer kamen hinzu, etwa ein Lächeln bei einer Pressekonferenz zur Flutkatastrophe. Rhomberg erwähnt einen weiteren Grund für die missliche Lage: „Union und Grüne haben mehr darauf geachtet, was die Parteibasis will und nicht wie ihre Kandidaten in der Gesamtwählerschaft wirken werden. Die SPD ging da einen anderen Weg.“ Scholz sei nicht unbedingt der Liebling der Partei, aber für die Wähler eine gute Alternative. Scholz holte in den Umfragen für die SPD rund zehn Prozentpunkte auf. Als Finanzminister und Vizekanzler versuche er sich staatsmännisch zu positionieren und sich in die Tradition von Merkel zu stellen, sagt Rhomberg. „Scholz macht das geschickt. Manchmal übertreibt er es aber“, etwa, wenn er sich mit der „Merkel-Raute“ ablichten lässt.

Die Folgen für die CSU

Die CSU von Markus Söder liegt in den Umfragen in Bayern bei knapp unter 30 Prozent. Kommt sie nicht mehr drüber, verpasst sie die Fünf-Prozent-Hürde, um es in den Bundestag zu schaffen. „Das ist nicht ganz so schlimm, weil sie den Einzug über Direktmandate in Bayern machen wird“, sagt der Politologe. Das Ergebnis ist für Söder auch parteitaktisch zentral. „Schneidet die Union mit 20 Prozent oder schlechter ab, wird Laschet als Vorsitzender Geschichte sein und Söder sich in Stellung bringen.“

Der mutmaßliche Linksrutsch

Der Wahlkampfschlager der Union ist die Warnung vor dem Linksrutsch und einer Koalition von SPD, Linken und Grünen. Das wäre möglich, laut Rhomberg aber unwahrscheinlich. „Ich vermute, die Union versucht so, beim älteren Wählerklientel noch zu mobilisieren.“ Scholz halte sich diese Koalitionsvariante vorwiegend aus taktischen Gründen offen.

Die internationalen Folgen

Merkel hat sich auf dem internationalen Parkett einen Namen gemacht und wird bis zur Regierungsbildung geschäftsführende Kanzlerin bleiben. Doch auch Scholz habe schon internationales Standing bewiesen, sagt Rhomberg. „Laschet hat als Ministerpräsident eine sehr enge Beziehung zu Frankreich.“ Beide Kandidaten würden sich international sicher durchsetzen können. Für Österreich ändere sich wenig, egal ob die CDU mit Laschet an der Spitze bleibe oder Scholz mit der SPD übernimmt. „Scholz wird als Kanzler nicht alles über Bord werfen, was er in den vergangene Jahren als Finanzminister gemacht hat.“

„Im April, Mai hätten wir besprochen, wie Schwarz-Grün aussehen könnte. Das ist kein Thema mehr.“