Wer kann Kanzlerin? Nach der Wahl in Deutschland ist vor dem Machtpoker
16 Jahre prägen eine Generation. Deutsche Jungwähler haben ihr Land nie ohne Angela Merkel an der Spitze kennengelernt. Für sie ist Politik verknüpft mit Merkels zögerlicher, doch beharrlicher Art, Entscheidungen zu treffen und Konkurrenten aus dem Feld zu räumen. Die Kanzlerin hat Europa, Deutschland und ihre Partei verändert. Überall hinterlässt sie große Fußstapfen.
Erstmals gehen drei Kandidaten mit Aussicht ihr Erbe anzutreten ins Rennen. Die Wahlkampfdiskussionen gerieten daher zu Triellen statt den gewohnten Duellen. Wobei Olaf Scholz beinahe nicht eingeladen worden wäre, galt er zu Beginn als chancenlos. Jetzt steht der SPD-Kandidat plötzlich als Favorit da. Die anfangs überschätzten Grünen hingegen liegen hinter der Union auf Platz drei. Wenn die Umfragen recht behalten. Die hohe Unentschlossenheit der Wähler macht es zusätzlich spannend.
Im Rückblick war der Wahlkampf ein Marathon, bei dem allen Kandidaten nach überraschenden Zwischenspurts die Luft ausging. Zu Beginn standen spannende Entscheidungen in den Parteien, wer überhaupt an den Start darf. Bei den Grünen wies Annalena Baerbock Robert Habeck elegant vom Platz, während Laschet schon einige Blessuren im Kampf gegen den bayrischen Ministerpräsidenten Söder davontrug. Auch der „Scholzomat“ war nicht erste Wahl, weil zu wenig links. Am Ende erwiesen sich Baerbock und Laschet als Last für ihre Parteien. Einzig Scholz gelang es, in der Kanzlerdirektwahlfrage die Werte der SPD zu überflügeln.
Die Grünen haben sich ihren Leichtsinn selbst zuzuschreiben. Baerbock kam bereits vor der heißen Phase ins Straucheln. Wegen Plagiatsvorwürfen, Lücken im Lebenslauf und unbedachter Wortwahl verspielte sie rasch ihre Glaubwürdigkeit und Kanzlerkompetenz. Ihre Partei hatte es verabsäumt, ihre Kandidatin auf Herz und Nieren zu prüfen. Wochen später spülte eine verheerende Flut Armin Laschet die Umfragen hinunter. Sein gedankenloses Lachen, seine langen Nachdenkpausen, seine Warnung vor Rot-Rot-Grün ließen auch sein Kanzlerformat schrumpfen.
So schlich sich der langweilige Scholz nach vorne. Als letzter vorgerückt, perlten Affären wie Wirecard und Cum-Ex vom Finanzminister ab. Er galt plötzlich als der Erfahrenste, als der mit den wenigsten Fehlern. Er hatte auch den witzigsten Slogan „Er kann Kanzlerin“ und den Mut zur Merkelraute. Scholz steht für politischen Wechsel, aber dennoch für wenig Abenteuer. Mitten in einer Pandemie und am Ende einer Ära wahrscheinlich genau die Erwartung vieler Deutscher.
Laschet, Baerbock oder Scholz müssen aber nicht nur die Wahl am Sonntag gewinnen. Es gilt auch eine Mehrheit mit anderen Parteien zu finden. Noch nie wurde im Vorfeld so offensiv betont, dass auch Zweitplatzierte den Führungsanspruch stellen können. Eine Zweierkoalition wird sich laut Umfragen nicht ausgehen. Daher müssen sich die Deutschen mit einer Dreierkoalition doch auf ein politisches Experiment einstellen. Hier mischt ein Vierter im Bunde mit: Sebastian Lindner, dessen Partei FDP seit 1949 viel Erfahrung als Juniorpartner sammeln konnte und dennoch 2013 den Bundestag verlassen musste. Lindner gilt als unberechenbar, seit er 2017 im Zielspurt die Jamaika-Koalition mit dem Satz „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren!“ platzen ließ. Dennoch könnte er als Königsmacher entscheiden, ob Scholz oder Laschet mit Grünen und FDP regiert.
Zuvor verteilen 60,4 Millionen Deutsche die Spielkarten für den Machtpoker. Der Sieger bestimmt auch den künftigen Kurs in Europa. Angesichts dieser Rolle geriet der Wahlkampf allerdings erschreckend inhaltsleer.
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