Schweigen am Grab

Politik / 24.10.2021 • 22:42 Uhr

Vor ein paar Tagen ist Colin Powell im Alter von 84 Jahren gestorben. Der erste afro-amerikanische Außenminister der Vereinigten Staaten. „Ein großer Staatsmann ist von uns gegangen“, hieß es allenthalben in den Nachrufen. Wie es sich eben „gehört“ nach dem Motto „Über die Toten soll man nur Gutes reden“.

Die Übersetzung des lateinischen Spruchs „De mortuis nil nise bene“ wird auch schnell beim Hinscheiden von Menschen hervorgekramt, die zeitlebens nicht nur eine weiße Weste trugen. Wie bei Colin Powell, der es zu Lebzeiten selbst reumütig eingestand.

Denn Powell war der Mann, der wider besseres Wissen und getrieben vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush die Welt belog, vor der UNO plump gefälschte „Beweise“ für irakische Massenvernichtungswaffen präsentierte, um damit „grünes Licht“ für einen Angriffskrieg auf den Irak zu erschleichen. Es wurde ein völkerrechtswidriger Krieg mit mehreren Hunderttausend Toten.

Soll über Menschen verachtende und über Leichen gehende Taten von Tätern, Mittätern und Helfershelfern bei ihrem eigenen Ableben geschwiegen werden? Ist das Gebot des Schweigens am Grab absolut? Alle Vergehen und Verbrechen vergessen und vergeben? Dann müsste auch nach dem Sterben von Massenmördern, Unterdrückern, Diktatoren und Monstern in Menschengestalt geschwiegen und im Bedarfsfall verständnisvoll und entschuldigend darauf hingewiesen werden, dass die jeweilige Person „eine schwierige Kindheit“ hatte oder „lieb zu Tieren“ war. Vielleicht garniert mit Hinweis auf den Schäferhund?

Denn da stellt sich doch die Frage, wie irgendwann und überall die Nachrufe auf demokratische und humane Grundregeln missachtende, korrupte und käufliche Politiker aussehen werden. Nur Gutes reden, Verwerfliches ignorieren, Urheber und Verantwortliche gar als Vorbilder darstellen und für sie Denkmäler errichten? Wie wär’s stattdessen mit Ehrlichkeit?

Dabei nicht vergessend, dass wir alle nicht ohne Fehl und Tadel sind. Praktisch jeder Mensch macht in seinem Leben Fehler, die er oft sogar bereut. Am Ende kommt es auf das Mischungsverhältnis von gut und weniger gut an; und auch das Vergeben ist eine menschliche Tugend. Aber am Schluss, spätestens am Grab und danach, darf nicht alles vergeben und verschwiegen werden. Das sind wir uns, unseren Mitmenschen und nachfolgenden Generationen als Mahnung schuldig.

„Praktisch jeder Mensch macht in seinem Leben Fehler, die er oft sogar bereut.“

Peter W. Schroeder

berichtet aus Washington, redaktion@vn.at