Experte Gerald Knaus zur Krise an der belarussisch-polnischen Grenze: “Hölle auf Erden”

Politik / 13.11.2021 • 04:15 Uhr
Experte Gerald Knaus zur Krise an der belarussisch-polnischen Grenze: "Hölle auf Erden"
Der Experte mit Vorarlberger Wurzeln ist Gründungsdirektor der ESI. Francesco Scarpa

Im Interview spricht der Migrationsforscher über die dramatischen Zustände und wie die EU nun vorgehen sollte.

BERLIN Die Situation an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union spitzt sich seit Tagen zu. Tausende Menschen sitzen im belarussisch-polnischen Grenzgebiet in der Kälte fest. Unterdessen bereiten die EU-Staaten neue Sanktionen gegen das autoritär geführte Belarus vor. Machthaber Alexander Lukaschenko steht in der Kritik, Migranten aus Krisengebieten einfliegen zu lassen und in Richtung Polen zu drängen. Migrationsforscher Gerald Knaus plädiert für eine Drei-Punkte-Strategie, um den Menschen zu helfen und die Erpressung zu beenden.

Unter den Menschen, die festsitzen, sind auch Kinder. "Fast wie Gefangene", sagt Knaus. <span class="copyright">AFP</span>
Unter den Menschen, die festsitzen, sind auch Kinder. "Fast wie Gefangene", sagt Knaus. AFP

Was wissen Sie über die Lage der Menschen im Grenzgebiet?

Es hat einen Grund, dass Journalisten und Frontex nicht an die Grenze gelassen werden. Die Berichte sprechen wirklich von einer Hölle auf Erden. Es ist eiskalt geworden. Wir wissen, dass die belarussischen Autoritäten die Menschen wie Figuren auf einem Schachbrett behandeln. Sie werden hin und hergeschoben und dürfen nicht zurückweichen. Sie sind fast wie Gefangene. Wir wissen auch, dass auf polnischer Seite Menschen zurückgestoßen werden. Lukaschenko hat keine Skrupel. Die EU kann diesen Wettbewerb der Brutalität, der Abschreckung als Wertegemeinschaft nicht gewinnen.

Wie kann die EU reagieren?

Sie braucht eine Strategie, die auf drei Punkten beruht. Erstens muss die EU verdeutlichen, dass sie Lukaschenko nicht nachgibt. Es wäre extrem gefährlich, wenn das Auftauchen von ein paar tausend Menschen an der EU-Grenze in Diskussionen über ein Ende der Sanktionen gegen Belarus führen würde. Zweitens dürfen Menschen nicht zurückgestoßen, und damit EU-Recht gebrochen werden. Damit tappt die EU in die Falle, dass sie mit den gleichen Methoden reagiert wie dieser Diktator.

Was sollte mit diesen Menschen geschehen?

Die polnischen Autoritäten sprechen von ein paar tausend Menschen. Wenn man sie aufnimmt, braucht man drittens einen Weg, klar zu signalisieren, dass sich nicht noch mehr auf den Weg nach Belarus machen. Es braucht also einen Plan, dass ab einem Stichtag nicht jeder in der EU einen Asylantrag stellen kann und sich wenige Tage später in Deutschland befindet, sondern in ein anderes osteuropäisches Land gebracht wird. Die Ukraine oder Moldau kämen etwa in Frage.

Haben neue Sanktionen überhaupt einen Sinn?

Kurzfristig ist das richtig. Aber es wird die Erpressung nicht beenden.

Sehen Sie die Gefahr, dass andere Staaten ähnlich wie Polen handeln könnten?

Seit vielen Jahren haben wir Pushbacks, also den Zusammenbruch der Rechtsstaatlichkeit, an den europäischen Grenzen. In Ungarn sind sie sogar legalisiert worden, was der Europäische Gerichtshof als europarechtswidrig verurteilt hat. Der Unterschied besteht darin, wer uns auf der anderen Seite gegenübersteht. Wenn Griechenland Schiffe mit Menschen in türkische Gewässer zurückschickt, werden sie dort aufgenommen. Wenn Kroatien Menschen über die Grenze nach Bosnien zurückschickt, werden sie von bosnischen Soldaten nicht gleich wieder in Richtung Kroatien gezwungen. Im Fall der polnisch-belarussischen Grenze haben wir es mit einem Mann zu tun, der bereit ist, seine eigene Bevölkerung zu foltern und Menschen sterben zu lassen. Das ändert die Verantwortung der EU.

zur person

Gerald Knaus wurde 1970 in Bramberg (Salzburg) geboren. Er ist

Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI) mit

Sitz in Berlin. Der Experte mit Bregenzerwälder Wurzeln hat

Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel

und Bologna studiert. Er berät Regierungen und Institutionen in Europa

zum Thema Flucht und Migration. Sein Buch „Welche Grenzen brauchen wir?“

ist 2020 im Piper Verlag erschienen.