Anschlag auf Humanität
Wenn staatliche Vertreter Verbrechen wie Folter, Mord bis hin zum Genozid anordnen, dulden oder begünstigen: Haben sie dann ein verbrieftes Recht, die Aufdeckung der Schandtaten als Verrat von Staatsgeheimnissen mit drakonischen Strafen zu bedrohen und die Aufklärer als die einzig wahren „Verbrecher“ einzusperren und mundtot zu machen? Etwa mit dem Zerstückeln eines saudischen Regimekritikers oder dem Ermorden russischer „Dissidenten“ mit Nowitschok-Nervengift vom KGB-Geheimdienst?
Ein solches „Ausschalten“ – ein abstruses 170-jähriges Kerkerurteil – droht Julian Assange, dem Gründer der „WikiLeaks“-Enthüllungsplattform. Denn dem nach Großbritannien Geflüchteten wirft die US-Justiz schändlichen Geheimnisverrat vor. Und verlangt seine Auslieferung an die US-Justiz, die ihn für seine „Verbrechen“ bestrafen und für alle Ewigkeit zum Schweigen bringen soll. Dem hat die britische Justiz zugestimmt. Ausgerechnet am 10. Dezember, dem Internationalen Tag der Menschenrechte.
Das „Verbrechen“ von Assange: Er deckte von US-Soldaten und anderen offiziellen Vertretern der Vereinigten Staaten vor einem Jahrzehnt in Afghanistan und dem Irak begangene Kriegsverbrechen und Mordorgien auf: Penibel organisierte und bestial ausgeführte Massentötungen von Zivilisten – einschließlich Kindern. Die Täter blieben unbehelligt.
Der zu Tatzeiten regierende US-Präsident George W. Bush initiierte stattdessen die Strafverfolgung Assanges, der die Ungeheuerlichkeiten ans Licht gebracht hatte. Bush-Nachfolger Barack Obama machte dem Spuk mit dem technischen Argument ein Ende, dass WikiLeaks als Medienunternehmen mit dem inhärenten Recht und auch der notwendigen Pflicht zur Aufdeckung von Missständen einzuschätzen sei. Der danach ins Präsidentenamt gekommene und Recht und moralische Prinzipien regelmäßig mit Füßen tretende Donald Trump blies wieder zur Jagd auf den Aufklärer. Zudem heckte seine Regierung den Plan aus, Assange zu entführen und zu ermorden.
Und jetzt? Wo bleibt der Aufschrei, nachdem auch der „neue“ Präsident Joseph Biden auf Trumps Rache-Spur einschwenkte? Das empörende Tauziehen um das Vertuschen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht mit Einspruchsverfahren weiter. Das letzte Wort wird wohl der in Straßburg residierende Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sprechen. Dann werden wir wissen, ob die Hoffnung und ein fundamentales Recht sterben müssen.
„Das empörende Tauziehen um das Vertuschen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geht mit Einspruchsverfahren weiter.“
Peter W. Schroeder
berichtet aus Washington, redaktion@vn.at