Gerold Riedmann

Kommentar

Gerold Riedmann

Dürre und Sintflut: Vor lauter Einzelfällen sehen wir die Klima-Katastrophe nicht

Politik / 20.08.2022 • 11:23 Uhr

VN-Chefredakteur Gerold Riedmann über das unglaubliche Glück Vorarlbergs – und die Notwendigkeit, jetzt gegen die Klima-Katastrophe zu handeln.

Vor lauter Einzelfällen sehen wir die Klimakatastrophe nicht

Vorarlberg ist in den vergangenen Tagen an einer Hochwasser-Katastrophe vorbeigeschrammt, ist aber mittendrin in der Klimakatastrophe. Die Rolle der zuständigen Ämter wird dabei aufzuarbeiten sein. Und die Bürgerinnen und Bürger werden von der Landes- wie Bundesregierung wesentlich entschlossenere Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakatastrophe und zur Anpassung an die unvermeidbaren Wetterextreme einfordern. 

So wenig der große Kontext ernst genommen wird, so muss sich auch der Katastrophenschutz im Kleinen unangenehme Fragen stellen lassen. Die Landeswarnzentrale etwa postete am Donnerstagnachmittag ein Bild auf Instagram: “Information über prognostizierte Niederschläge” war da zu lesen. Es seien 60 bis 100 Millimeter Regen zu erwarten. Das war das, was die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) mitteilte und eine Regenwarnung erließ. Am Freitagnachmittag noch beschwichtigte der Leiter der Landeswarnzentrale auf VN-Anfrage, wie auch in der Samstagsausgabe dokumentiert. “Es kommt einiges vom Himmel runter. Und wir wussten das auch im Vorfeld.” Für jene Zehntausende, die am Freitag wegen überfluteter Straßen und ausgefallenem öffentlichem Verkehr im Rheintal im Verkehrschaos gestrandet sind, stundenlang nach hause brauchten – oder deren Keller vollgelaufen sind, für jene klingt das wie ein Hohn. Schlussendlich sollte die Prognose der Warnzentrale ums Doppelte übertroffen werden. Private Wetterdienste warnten erheblich entschlossener.

Der “Vorarlberger Landeskorrespondenz”, offizielles Organ der Landespressestelle, war die Regenwarnung am Donnerstag gleich überhaupt gar keine Meldung wert. Das lang erwartete – und in den USA seit etwa einem Jahrzehnt wohlfunktionierende Handy-Warnsystem – ist in Österreich weiterhin nicht einsatzbereit.

Dabei ist es höchst an der Zeit, der Realität ins Auge zu sehen und zu handeln.

Die Klimakatastrophe ist keine Frage von abschmelzenden Polkappen, irgendwo bei den Eisbären. Sie geschieht hier und jetzt.

Wir brauchen uns nicht weit zurückzuerinnern. Nur wenige Tage. 

Vorarlberg in weniger als einer Woche: Ein ungewöhnlich großer Felssturz im Nenzinger Himmel. Hitze und Trockenheit, Trinkwasserquellen in Langen versiegt, Bodensee-Niveau alarmiert. Waldbrand am Karren. Dann Regenrekord, Vorarlberg wird von so viel Niederschlag heimgesucht wie noch nie zuvor. Die Tümpel in den ausgetrockneten Bachbetten, aus denen vor wenigen Stunden noch Forellen gerettet werden mussten, hatten sich in braune, reißende Fluten verwandelt. Die mutigen Feuerwehrmänner und -frauen, sowie alle anderen Einsatzkräfte mussten von 0 auf 100. Die Klimakatastrophe kann nicht auf den Schultern der Freiwilligen abgeladen werden, die von einem Einsatzrekord zum nächsten hecheln müssen. Vorarlberg hatte riesengroßes Glück. Was, wenn es etwas länger geregnet hätte? Was, wenn nur eine Familie im Auto vom Wasser überrascht worden wäre? Geben wir zu: wir hatten das nicht im Griff. Wir hatten bloß Glück.

Was braucht es denn noch, bis wir alle, vor allem aber die Entscheidungsträger in der Regierung in Bregenz wie Wien begreifen, wie sich die Folgen des Klimawandels anfühlen? Derzeit ist das nicht der Fall. Höchstes Regierungsprojekt ist seit 30 Jahren die S18, die übrigens – unterirdisch – genau dort verlaufen soll, wo am Freitag alles unter Wasser stand. Sie wäre abgesoffen. 

Vorarlberg ist am Freitag und in der Nacht auf Samstag mit unglaublichem Glück an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Geregnet hat es mehr als beim sogenannten “Jahrhunderthochwasser”, das erst 17 Jahre her ist. Die amtlichen Warndienste haben die Situation unterschätzt. Wir sollten viel aus diesem Freitag lernen. Denn die Katastrophe ist nicht vorbei, die Klimakatastrophe ist erst dabei, ihre furchtbare Gewalt zu entfalten. 

Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.