Jeder Vierte darf nicht wählen: Ein “Demokratiedefizit”

Politik / 21.08.2022 • 18:00 Uhr
Jeder Vierte darf nicht wählen: Ein "Demokratiedefizit"
Nur die österreichische Staatsbürgerschaft berechtigt bei Bundeswahlen zum Gang ins Wahllokal. APA/GEORG HOCHMUTH, VOL.at/Springer

Experten sehen in der restriktiven Vergabe der österreichischen Staatsbürgerschaft ein demokratiepolitisches Problem und fordern eine Reform.

Wien, Bregenz Wenn Österreich am 9. Oktober seinen Bundespräsidenten wählt, werden 1,3 Millionen nicht mitbestimmen dürfen. So viele Über-16-Jährige leben ohne österreichische Staatsbürgerschaft im Bund, das sind knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Vorarlberg sind es mit 23,7 Prozent sogar etwas mehr, 64.000 Bewohner hierzulande dürfen bei Wahlen und Volksabstimmungen ihre Meinung nicht kundtun. Das zeigt eine Auswertung von Daten der Statistik Austria und ist ein demokratiepolitisches Problem, erklärt der Politikwissenschaftler Gerd Valchars im VN-Gespräch. Währenddessen plädiert die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger, die Staatsbürgerschaft nicht mehr „wie die Karotte vor der Nase des Esels“ zu behandeln. Sie könne nämlich auch ein Katalysator für gelungene Integration sein.

Positive Nebeneffekte

Das sei etwa dann der Fall, wenn sie nach etwa fünf Jahren im Land verliehen wird, weiß Kohlenberger: „Dann gibt es nachweislich positive Effekte auf die Erwerbsquote und auf das Lohnniveau, speziell bei Frauen.“ Die kausalen Zusammenhänge könne man zwar nicht erheben, es gibt aber einige Theorien: „Es ist sicherlich das Gefühl der größeren Zugehörigkeit und dass man mitbestimmen darf. Auf der anderen Seite hat man mit einer Staatsbürgerschaft bei der Jobsuche in Österreich ganz einfach bessere Chancen.“

“Das Wachstum der Bevölkerung geht in Österreich allein auf Zuwanderung zurück, die Fertilität allein würde hierfür nicht reichen.”

Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin (Wirtschaftsuniversität Wien)

Aus diesem Grund plädiert die Kulturwissenschaftlerin, die Kriterien für die Staatsbürgerschaft zu senken: „Die gesamte Vergabe muss niederschwelliger werden. Man sollte vor allem die finanziellen Hürden senken und über alle Bundesländer vereinheitlichen.“ Im Moment sei der Prozess nämlich eine „absurde okönomische Selektion“. Ein erster Schritt wäre laut Kohlenberger die Einführung eines „ius soli“, also einer Staatsbürgerschaft für alle Babys, die auf österreichischem Boden geboren werden, wenn deren Eltern zuvor für eine gewisse Zeit im Land lebten: „Das Wachstum der Bevölkerung geht in Österreich allein auf Zuwanderung zurück.“

Fehlende Legitimation der Politik

Das würde auch dem „Demokratiedefizit“, wie es Gerd Valchars nennt, entgegenwirken: „Die Demokratie ist nicht mehr in vollem Umfang vorhanden. Wenn ein Teil der Gesellschaft nicht wählen kann, kann die Regierung von diesem Teil der Bevölkerung nicht mehr legitimiert werden.“ Menschen, die lange im Land leben, das Wahlrecht vorzuenthalten, wirke außerdem desintegrativ. Auch, weil die Einstellungen dieser Menschen wahrscheinlich keinen Einzug in politischen Überlegungen nehmen: „Politik wird dann eher für die Anderen gemacht. Politiker schauen nämlich dorthin, wo ihre Wähler sind oder wo sie Wähler dazugewinnen können.“

“Die Demokratie ist nicht mehr in vollem Umfang vorhanden. Wenn ein Teil der Gesellschaft nicht wählen kann, kann die Regierung von diesem Teil der Bevölkerung nicht mehr legitimiert werden.”

Gerd Valchars, Politikwissenschaftler (Universität Wien)

Valchars wolle gar nicht in Frage stellen, dass es Menschen gibt, die die Staatsbürgerschaft gar nicht anstreben. Das sei aber kein Grund, für die Anderen keine Lösung finden zu wollen. Und diese könnte auf eine geregelte Einbürgerung ab einer bestimmten Zeit im Land oder bei bestimmten „Lebensereignissen“, wie dem Schulbesuch oder der gesellschaftlichen Prägung als Kind, hinauslaufen.

Vorgeschobene “Entwertung”

Und wie reagiert die Politik auf diese Einschätzungen? Vonseiten der Bundesregierung betont vor allem die ÖVP immer wieder, an den Kriterien für die Staatsbürgerschaft nicht rütteln zu wollen; das „entwerte“ sie nämlich. Judith Kohlenberger dazu: „Das fühlt sich immer irgendwie so an, als wäre die österreichische Identität das Allertollste. Doch über die Identität selbst, was es überhaupt bedeutet, Österreicherin zu sein, diskutieren wir viel zu wenig. Das ist ja gar nicht klar.“