Farce à la Russe
„Oh, the grand old Duke of York,
He had ten thousand men;
He marched them up the top of the hill,
And he marched them down again.
When they were up, they were up,
And when they were down, they were down,
And when they were only halfway up,
They were neither up nor down.“
Dieser älteste und bekannteste englische Kindervers aus dem 17. Jahrhundert über den alten Herzog von York, der seine Truppe von Zehntausend Männern ohne erkennbare Logik den Hügel hinauf- und wieder heruntermarschieren ließ und die dann in der Mitte stecken blieben, passt in seiner Skurrilität punktgenau zu den Vorgängen am vergangenen Samstag, als der russische Söldnerführer Prigoschin seine vermutlich ebenso vielen Männer Richtung Moskau marschieren ließ und noch vor Ende des Tages, 200 Kilomenter vor dem Marschziel Moskau, zu Umkehr und Rückzug blies. Zahlreiche Fragen bleiben offen: Die Geschehnisse sind bis zu diesem Zeitpunkt nicht weniger rätselhaft als die Aktion des „alten Herzogs von York“.
Täglich überschlagen sich die Hypothesen, Theorien und Gerüchte. Klar ist, dass Putin, der in seinem Realitätsverlust die Warnzeichen ignoriert hatte, massiv geschwächt aus diesen Geschehnissen hervorgegangen ist. Sein Ruf als der unantastbar Starke Mann im Kreml ist dahin. Die russischen Streitkräfte haben in ihrem Unvermögen, Prigoschin und seine „Wagner“-Söldner zu stoppen, noch mehr Schwäche und Inkompetenz als bisher an den Tag gelegt. Nur Putins Marionette, der weißrussische Machthaber Alexander Lukaschenko, ist in seiner angeblichen Rolle als „Vermittler“ gestärkt aus dieser brandgefährlichen Krisensituation hervorgegangen ist.
Am Samstag hatte der englische „Telegraph“ in einer Überschrift berichtet, dass der ukrainischen Armeeführung „das Popcorn“ ausgehe – will heißen: Die Ukrainer verfolgten das Chaos und die Selbstzerfleischung im Nachbarland mit derselben atemlosen Spannung, mit der man im Kino einen Action-Film anschaut und dazu Popcorn knabbert. Die wichtigste Frage für sie ist wohl, ob der Putsch-Versuch oder zumindest der Marsch auf Moskau Prigoschins und seiner Leute den Gegner geschwächt und die Chancen für die ukrainische Gegenoffensive deutlich erhöht hat. Offen ist, ob die angeblich 25.000 Mann starke „Wagner“-Truppe, die schlagkräftigsten aber auch brutalsten unter den Gegnern der Ukraine, jetzt aufgelöst und in die regulären russischen Streitkräfte integriert und damit vermutlich entschärft werden – oder ob sie sich unter Führung des jetzt in Belarus exilierten Prigozhin neu formieren und eine neue Front, eine Zangenbewegung gegen die ukrainischen Streitkräfte eröffnen. Dass Putin jetzt das Strafverfahren gegen den „Verräter“ Prigozhin trotz der von seinen Leuten abgeschossenen russischen Flugzeuge fallengelassen hat, deutet darauf hin, dass er sich weiterhin des Söldnerführers bedienen will.
Charles E.
Ritterband
charles.ritterband@vn.at
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).