Neuer Anlauf
Vor zwei Wochen gab es im Deutschen Bundestag einen Abstimmungsvorgang, der hierzulande unvorstellbar scheint. Ohne jegliche Fraktionsbindung konnten die Abgeordneten über zwei Gesetzesentwürfe entscheiden, die jeweils von unterschiedlichen Abgeordneten aus allen Fraktionen eingebracht worden waren. Das war einerseits unabhängiger Parlamentarismus in Reinkultur, anderseits allerdings mit dem Problem, dass keiner der Anträge eine Mehrheit fand. Worum ging es? 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht die Sterbehilfe liberalisiert, begleitende Regelungen zur Schaffung von Rechtssicherheit blieben aber bis heute ausständig und der Bundestag wird jetzt wohl einen neuen Anlauf nehmen müssen.
„Was mit dem großen Rest geschehen ist, blieb bisher unklar.“
Auch in Österreich hob 2020 der Verfassungsgerichtshof die Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid auf, verlangte vom Gesetzgeber allerdings gleichzeitig Maßnahmen zur Verhinderung von Missbrauch. Dem wurde mit einem Sterbeverfügungsgesetz Rechnung getragen, gleichzeitig aber auch verankert, dass die Hospiz- und Palliativversorgung bedarfsgerecht und flächendeckend ausgebaut werden soll. Seit Anfang 2022 wurden bisher rund 200 Sterbeverfügungen errichtet und in weiterer Folge 160 Dosen des tödlichen Präparats ausgefolgt. Davon wurde allerdings offenbar nur ein ganz kleiner Teil tatsächlich verwendet oder zurückgegeben. Was mit dem großen Rest geschehen ist, blieb bisher unklar. Nicht benötigte Präparate müssen zwar gemeldet werden, es zu unterlassen zieht aber keine Sanktionen nach sich, was die Tür für Missbrauch offenlässt.
Am 21. Juni hat die Österreichische Gesellschaft für ein humanes Lebensende beim Verfassungsgerichtshof eine Gesetzesanfechtung eingebracht, weil es für Sterbewillige sachlich nicht gerechtfertigte Hürden vorsehe, weiters soll auch das Verbot aktiver Sterbehilfe aufgehoben werden. Einen entsprechenden Antrag hatte der Gerichtshof 2020 zwar zurückgewiesen, aber nicht aus inhaltlichen, sondern lediglich formalen Gründen. Wenn sich der Verfassungsgerichtshof diesmal inhaltlich nochmals damit beschäftigen sollte, ist der Ausgang völlig offen und nachdem vom Gerichtshof bisher angelegten Maßstab wird es für ihn schwer sein, jemand die Selbsttötung nur deshalb zu verwehren, weil er das tödliche Präparat bei Vorliegen aller anderen Voraussetzungen letzten Endes nicht mehr selbst zu sich nehmen kann. Der Unterschied, jemand das Glas nur hinzustellen oder ihm auch beim Trinken zu helfen, wird eine schwierige Gratwanderung. Umso wichtiger wird es sein, durch gute medizinische und soziale Begleitung einen Sterbewunsch erst gar nicht wirksam werden zu lassen.
Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.
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