Von Hand geborgen

Verzweifelt suchen die Menschen im Gazastreifen in zerstörten Häusern nach Angehörigen.
Deir al-Bala Die Verwüstung zieht sich von einer Straße zur nächsten. Der Gestank ist widerlich. Trotzdem geben die Menschen nicht auf. Hunderte durchwühlen beharrlich die Überreste ihrer Stadtviertel. In der Hoffnung, ihre Kinder zu finden. Ihre Eltern. Ihre Nachbarn. Die Opfer der israelischen Luftangriffe müssen irgendwo dort liegen. Die Überlebenden arbeiten sich Tag für Tag durch die Trümmer, mit Schaufeln und Metallstangen, zum Teil mit bloßen Händen.
Friedhofslandschaft
Gut fünf Wochen nach Beginn des Kriegs sind einige Siedlungen im Gazastreifen eher Friedhöfe als Wohngebiete. Die Hamas, die bei ihrem Terrorangriff am 7. Oktober in Israel etwa 1200 Menschen tötete, hat viele ihrer Stützpunkte inmitten von dicht besiedelten Quartieren. Die israelischen Streitkräfte nehmen diese militärischen Anlagen ins Visier, treffen dabei aber unweigerlich immer wieder auch zivile Gebäude. Tausende Palästinenser sind dabei bereits ums Leben gekommen.
Die Behörden des Gazastreifens haben laut eigenen Angaben weder die Ausrüstung, noch die Arbeitskräfte oder den Treibstoff, um auf ordentliche Art in den Trümmern nach Überlebenden zu suchen – geschweige denn, um alle Leichen zu bergen. Also bleibt den Menschen nichts anderes übrig, als sich mit einfachsten Mitteln selbst an die Arbeit zu machen.
Omar al-Darawi und seine Nachbarn suchen in den Ruinen zweier vierstöckiger Gebäude im Zentrum des schmalen Küstenstreifens. Bis vor wenigen Wochen lebten 45 Menschen in den Häusern. Bei ihrer Zerstörung kamen 32 von ihnen ums Leben. In den ersten Tagen nach dem verheerenden Angriff wurden 27 Leichen geborgen. Die fünf, die noch immer vermisst werden, waren allesamt Cousinen von al-Darawi.
Unter denen, die bisher nicht gefunden werden konnten, ist die 37-jährige Amani, die mit ihrem Mann und ihren vier Kindern starb; und die 28-jährige Aliaa, die sich in einem der Häuser um ihre Eltern gekümmert hatte; und eine weitere Cousine mit dem Namen Amani, die mit ihrer 14-jährigen Tochter bei dem Angriff getötet wurde. „Die Lage wird jeden Tag schlechter“, sagt der 23-jährige al-Darawi. Aber Aufhören komme nicht infrage. „Wir wollen sie finden und sie beerdigen.“
Mehr als 11.400 Tote
Laut palästinensischen Angaben sind bei den Luftangriffen auf den Gazastreifen insgesamt schon mehr als 11.400 Menschen getötet worden. Nach Schätzung der Vereinten Nationen werden etwa 2700 Menschen, darunter 1500 Kinder, vermisst und sind mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Trümmern begraben.
Die Suche nach den Opfern ist vor allem im Norden des Gazastreifens schwierig, wo israelische Bodentruppen gegen Anhänger der Terrorgruppe Hamas kämpfen. Hunderttausende Menschen sind in den vergangenen Wochen in Richtung Süden geflüchtet. Doch auch dort kommt es immer wieder zu israelischen Angriffen. Einen wirklich sicheren Ort gibt es derzeit also nirgendwo in dem abgeriegelten Küstengebiet.
An vielen Orten bleibt die Suche somit Angehörigen der Opfer überlassen – oder freiwilligen Helfern wie Bilal Abu Sama. Dieser zählt einige der verheerendsten Angriffe in Deir al-Bala auf: Zehn Leichen würden in den Überresten der örtlichen Al-Salam-Moschee vermisst, zwei Dutzend Tote lägen noch unter den Trümmern eines Wohngebäudes, zehn Tote hätten nach der Zerstörung einer weiteren Moschee bisher nicht geborgen werden können.
Hilfe durch Bulldozer
Am Dienstag, 28 Tage nach der Zerstörung seines Hauses bei einem Luftangriff, fand Issel-Din al-Moghari die Leiche eines Cousins. Insgesamt lebten 24 Mitglieder der erweiterten Familie in dem Haus in dem Flüchtlingsviertel Bureidsch. Alle bis auf drei wurden getötet. Acht werden bis heute vermisst. Ein Bulldozer der Behörden hatte drei Tage nach dem Angriff die Straße vor dem Haus freigeräumt, musste dann aber zu anderen zerstörten Gebäuden weiterfahren. Am Dienstag kam der Bulldozer zurück, um die andauernde Suche nach Vermissten zu unterstützen.
Mit dem Fund der Leiche des Cousins ist die Arbeit für Al-Moghari noch immer nicht beendet. Er sucht noch die Leiche seines Vaters. Und die Leichen von mehreren weiteren Angehörigen. „Ich bin fassungslos“, sagt er. „Was wir durchgemacht haben, ist unbeschreiblich.“
