Bußjäger im VN-Interview: „Vorarlberg bezeichnet sich stolz als selbstständiger Staat“

Ein VN-Interview mit Verfassungsjurist Peter Bußjäger, anlässlich der kürzlichen Veröffentlichung eines aktuellen, voll umfassenden Kommentars zur Vorarlberger Landesverfassung.
Bregenz Auf 1057 Seiten fassen Verfassungsjurist Peter Bußjäger, Matthias Germann, Leiter der Legistik-Abteilung des Landes, und Landtagsdirektorin Borghild Goldgruber-Reiner in einem neuen Kommentar die Vorarlberger Landesverfassung zusammen – rechtzeitig zu deren 100. Geburtstag im Jahr 2023. „Wir analysieren auch politisch mitunter höchst brisante Regelungen, also zum Beispiel, was der Landesrechnungshof darf oder was zu tun ist, wenn ein Landtagsabgeordneter ausgeliefert werden soll“, sagt Bußjäger zu den VN. Ein Gespräch mit dem Direktor des Instituts für Föderalismus über diesen Föderalismus, Staatsziele und das Staatsgebiet.
Herr Bußjäger, haben Sie einen Lieblings-Artikel in der Vorarlberger Landesverfassung?
Bußjäger Als Föderalist gefällt mir Artikel 1: Die Bestimmung, dass Vorarlberg ein selbstständiger Staat ist. In der praktischen Bedeutung ist sie natürlich bescheiden, aber als Deklaration finde ich sie sehr gut.
Ist diese Deklaration für ein Bundesland nicht etwas hochgestapelt?
Bußjäger Sie hebt die Vorarlberger Landesverfassung zumindest gegenüber den anderen hervor: Keines der anderen acht Bundesländer bezeichnet sich als Staat. Ausgehend von der klassischen Bundesstaatstheorie – ein Bundesstaat ist ein zusammengeführter Staat – haben aber auch die Gliedstaaten eine eigene Staatsqualität. Und dazu gehört eine beschränkte, aber keine völkerrechtliche, Teilsouveränität. Also ist es völlig richtig, dass sich Vorarlberg recht stolz als selbstständiger Staat bezeichnet.
Vorarlberg ist in der Hinsicht also besonders progressiv?
Bußjäger Ja, es ist progressiv und eigentlich erstaunlich. Denn während in anderen Themenbereichen zwischen Bund und Land gröbere Konflikte ausgebrochen sind, war das eigentlich kein Thema. Das Bundeskanzleramt hat sich gegen diese Bestimmung nicht gewehrt.

Der Verfassungsgerichtshof hat das „bürgerliche Volksabstimmungsrecht“ auf Gemeindeebene im Jahr 2020 gekippt. Hat Vorarlberg seine Kompetenzen auch in anderen Bereichen ausgereizt?
Bussjäger In seinen Lebenserinnerungen hat (der frühere Landeshauptmann, Anm.) Ulrich Ilg geschrieben, dass Vorarlberg immer Stammkunde am Verfassungsgerichtshof war. Zum einen, weil man viele Bundesgesetze wegen Kompetenzüberschreitung angefochten hat und weil das auch die Bundesregierung bei vielen Landesgesetzen gemacht hat. Einen relativ heftigen Konflikt gab es rund um das „Rundfunkerkenntnis“ – der Vorarlberger Landessender wurde abgedreht. Damals wollte Ilg sogar sein Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik an den Bundespräsidenten zurückschicken. Und Vorarlberg ist tatsächlich das Bundesland, das am häufigsten wegen Kompetenzfragen am Verfassungsgerichtshof gelandet ist – weil man bemüht war, seine Spielräume möglichst auszuschöpfen oder den Bund einzugrenzen. Aber der Verfassungsgerichtshof hat tendenziell doch eher zugunsten des Bundes entschieden.
Das heißt, Vorarlberg ist ein besonders vorbildhafter Föderalist?
Bußjäger Ja, zumindest in dem Sinn, dass auch Bereitschaft besteht, Kompetenzen wahrzunehmen und sie zu verteidigen.

In Artikel 7 der Landesverfassung stehen einige Staatszielbestimmungen. Vorarlberg bekennt sich zum Beispiel zum Klimaschutz und lehnt das Fracking ab. Ist das sinnvoll?
Bußjäger Jedenfalls! Solche Staatszielbestimmungen drücken eine bestimmte Werteorientierung des Landes aus und nehmen dadurch auch die Politik in die Pflicht. Schlussendlich obliegt es aber vor allem der Interpretation des Verfassungsgerichtshofes, ob solche Bestimmungen mit Leben erfüllt werden – oder eher nicht. Dieser ist hier sehr bedauerlicherweise zurückhaltend, es gibt aber eine gewisse Dynamik: Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat zum Beispiel aus einer Staatszielbestimmung abgeleitet, dass die bestehende Klimaschutzgesetzgebung zu lasch war.
Das heißt aber, dass das für die Politik auch nach hinten losgehen kann?
Bußjäger Genau, die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist nicht in Stein gemeißelt, sie kann dynamischer werden. Und dann stellt sich etwa die Frage, ob er das Staatszielbekenntnis zum Klimaschutz heute immer noch so restriktiv auslegen würde, wie bei der Entscheidung zur dritten Piste am Flughafen Wien-Schwechat. Das birgt durchaus die Gefahr, dass man an diesen Worten auch gemessen wird. Doch mit dem muss die Politik leben.

Das Landesverwaltungsgericht hat zum Beispiel den Klimanotstand des Landes als Strafmilderungsgrund für Klimaaktivistinnen anerkannt.
Bußjäger Ja, daran hat wahrscheinlich niemand im Landtag gedacht. Denn der Beschluss hat vor allem dazu gedient, dass man sich selbst dem Ernst der Lage bewusst wurde – aber man kann darüber diskutieren, wie ernsthaft dieser dann tatsächlich umgesetzt wurde. Trotzdem hat das Landesverwaltungsgericht in origineller und innovativer Weise diesen Beschluss aufgenommen. Es hat gesagt, dass man es den Leuten strafmildernd zugutehalten muss, wenn sie den Klimanotstand, den der Landtag ausgerufen hat, auch selbst ernst nehmen.
„Originell“ bedeutet aber nicht „schlecht“, oder?
Bußjäger Nein, das ist nicht schlecht, ich sehe das positiv. Das Gericht hat den Entscheidungsträgern auf Landes- und auch auf Gemeindeebene ihre eigenen Beschlüsse noch einmal vor Augen geführt. Im Sinne von: „Wenn ihr etwas beschließt, dürft ihr euch nicht wundern, wenn man das auch tatsächlich ernst nimmt und euch fragt, was ihr selbst tut, um dem Beschluss gerecht zu werden.“ Und das ist ein guter und wichtiger Ansatz.
Wo endet eigentlich Vorarlbergs Staatsgebiet? Bis wohin gilt die Landesverfassung?
Bußjäger Diese Frage stellt sich am Bodensee, aber sie ist völkerrechtlich immer noch ungeklärt – weil es einfach keinen unstrittigen Grenzverlauf gibt. Es gibt verschiedene Theorien: Vorarlberg vertritt die Kondominiumstheorie, wonach alle drei Anrainerstaaten – Österreich, Deutschland und die Schweiz – ab einer Wassertiefe von 25 Metern dieselben Rechte haben. Im Gegensatz zur schweizerischen Realteilungstheorie, die Vorarlberg benachteiligen würde. Amüsant ist, dass Vorarlberg vor dem Zweiten Weltkrieg noch diese Theorie vertreten hat und später die Wiener Stellen doch von der Kondominiumstheorie überzeugen wollte. Und die Konferenz, in der das dann festgelegt wurde, wurde von einem Gesandten namens Rudolf Kirchschläger geleitet, der dann ja später Bundespräsident war. Wenn ein Bodenseeschiff also schon nach einem Politiker aus Wien benannt werden soll, dann nicht nach Karl Renner, sondern nach Kirchschläger.
