Die Sozialhilfe: Für die einen zu hoch, für die anderen zu wenig

Wiener Einzelfall sorgt für Diskussionen über die Höhe der Sozialhilfe. Ein Blick nach Bregenz zeigt: Manche brauchen trotz Sozialhilfe weitere Unterstützung zum Schulstart.
Bregenz Dienstag, 9.15 Uhr im ehemaligen Bregenzer Bürgerservice. Ein Mann betritt den Raum und setzt sich gegenüber von Nadine Kosalec. “Kommen Sie wegen den Gutscheinen?”, fragt sie. Der Mann nickt, übergibt ihr die Unterlagen und wartet. Er entstammt einem der 591 Haushalte, die Anspruch auf das Schulstartgeld des Sozialministeriums haben. Der Schulstart ist teuer, erklärt Erika Schäfer von der Vorarlbergs Volkshilfe. Gerade für Familien mit vielen Kindern. Obwohl sie auf den ersten Blick einiges an Sozialhilfe bekommen. In Wien sorgt gerade ein Fall einer neunköpfigen Familie aus Syrien für Aufregung, die rund 4600 Euro Sozialhilfe bezieht. In Vorarlberg wäre das gar nicht möglich, sagt Landesrätin Katharina Wiesflecker. Landeshauptmann Markus Wallner fordert deshalb das Vorarlberger Modell für ganz Österreich. Armutsforscher Andreas Exenberger von der Uni Innsbruck ärgert sich über die Diskussion insgesamt.

Der Fall, der für Diskussionen sorgt: Eine Wiener Familie aus Syrien hat sieben Kinder. Das als Lebensgemeinschaft lebende Paar erhält 809,09 Euro Sozialhilfe, dazu kommt ein Mietzuschuss von rund 1000 Euro. Und eben 312,08 Euro pro Kind, womit 4600 Euro zusammenkommen. Das liegt daran, dass in Wien jedes Kind denselben Betrag erhält.
Vorarlberg, Richtsätze
Pro Erwachsener: 485,45 Euro
1. bis 3. Kind: 221,92 Euro
4. bis 6. Kind: 152,57 Euro
ab dem 7. Kind: 117,9 Euro
Dazu Wohnkosten: Maximal 1240 Euro
In Vorarlberg ist die Sozialhilfe anders aufgebaut. Hier gab es im Jahr 2023 74 Mehrkindfamilien, die mindestens 2000 Euro als Sozialhilfe und für den Wohnbedarf erhalten. 52 davon sind aus Syrien. Jede erwachsene Person erhält 485,45 Euro, dazu kommen 221,92 Euro für jedes der ersten drei Kinder, für Kind vier bis sechs gibt es 152,57 Euro, ab dem siebten Kind noch 117,90 Euro. Damit würde die Familie hier insgesamt 2212,27 Euro erhalten, dazu kommen 1240 Euro Wohnkostenzuschuss. Der wird allerdings direkt an den Vermieter überwiesen. Und wer den Vorarlberger Wohnungsmarkt kennt, der weiß, dass 1240 Euro für eine Wohnung für eine Großfamilie nicht reichen.
74 Haushalte in Vorarlberg, die über 2000 Euro Sozialhilfe für Lebensunterhalt und Wohnbedarf erhalten:
- Syrien: 52
- Russland: 9
- Österreich: 2
- Afghanistan: 2
- Irak: 2
- Andere: 7

Andreas Exenberger von der Uni Innsbruck warnt: “Es handelt sich zwar um einen realen Fall, aber es gibt sehr wenige davon. Und die Sozialhilfe ist insgesamt ein kleiner Teil des Budgets. Die Aufregung ist überproportional groß.” Im Einzelfall sei der Betrag natürlich zu hoch, der Akzeptanzprobleme auslöst. Aber: “Auch mit diesem Betrag liegt eine neunköpfige Familie immer noch klar unter der Armutsgefährdungsschwelle.” Die Sozialhilfe orientiere sich an statistischen Größen, nicht an den individuellen Fällen. Und da kann es eben zu solchen Einzelfällen kommen.

Landeshauptmann Wallner (ÖVP) fordert, dass der Unterschied zwischen Arbeitseinkommen und Sozialhilfe sinkt. Exenberger stimmt dieser Aussage zu, sagt aber: “Da wird immer nur eine Seite diskutiert. Es braucht auch leistungsgerechte Löhne in manchen Segmenten.” Wallner möchte zudem, dass das Vorarlberger Modell österreichweit eingeführt wird. Also, dass auch in Wien die Kinderrichtsätze mit der Anzahl der Kinder sinken. Der Handlungsspielraum bei den Wohnkosten müsse allerdings beibehalten werden. Soziallandesrätin Katharina Wiesflecker sieht in der Diskussion ein weiteres Argument für die Kindergrundsicherung. Da nämlich würde der Unterschied zwischen Kindern aus Familien mit Sozialhilfe und Kindern aus Familien ohne Sozialhilfe aufgelöst. “Damit würde sich auch die Neiddebatte entschärfen”, sagt Wiesflecker.

Auch Armutsforscher Andreas Exenberger sieht Handlungsbedarf. “Der Murks der Reform muss dringend repariert werden”, fordert er. “Aber diese Debatte kann man im Wahlkampf nicht führen, das zeigt das aktuelle Beispiel.” Er sieht vor allem bei der Bürokratie Handlungsbedarf. “Da klagen viele. Manche nehmen die Sozialhilfe nicht in Anspruch, weil der Antrag zu kompliziert ist. Man erreicht viele Menschen nicht, denen es zustehen würde.” Andere würden auch aus Scham keine Sozialhilfe beantragen. Das Grundproblem der Reform sei aber, dass statt Mindestsätzen Höchstsätze definiert werden. Die im Bundesgesetz vorgesehenen Kinderrichtsätze seien aber die größte Frechheit. “Ab dem vierten Kind kommt man auf ungefähr 36 Euro pro Monat. Das ist unter der globalen Armutsgefährdungsschwelle der Vereinten Nationen.”
In vielen Bundesländern orientiert man sich nicht daran. Auch nicht in Vorarlberg. Trotzdem fehlt das Geld für den Schulstart. 1292 Kinder haben Anspruch auf das Schulstartgeld des Sozialministeriums, erklärt Nadine Kosalec. 98 Prozent aller Anspruchsberechtigten holen sich den 150-Euro-Gutschein pro Kind. Dazu kommt die Aktion der Volkshilfe, die Schulstartgeld an jene auszahlt, die unter der Armutsschwelle leben, aber keine Sozialhilfe erhalten. “Die meisten, die zu uns kommen, haben so drei bis vier Kinder”, erzählt Kosalec. Sechs Wochen lang kann der Gutschein in Feldkirch und Bregenz abgeholt werden. Und wer sich keine Schultasche für sein Kind leisten kann, dem wird auch geholfen: Gespendete Schultaschen liegen abholbereit auf.
