Die Einzelfallfalle
Österreich hat sein erstes Wahlkampfthema: die Sozialhilfe. Ein Einzelfall rückt die Höhe der Sozialhilfesätze in den Fokus. Durchaus zurecht, schließlich müssen Sozialleistungen bei jenen auf Akzeptanz stoßen, die sie bezahlen: bei den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern. Doch der Einzelfall verdeckt viele Aspekte, die längst diskutiert werden sollten.
Der Stein des Anstoßes: Eine neunköpfige Wiener Familie aus Syrien erhält rund 4600 Euro Sozialhilfe vom Staat. Netto und zwölfmal pro Jahr, 1000 Euro davon ist ein Mietzuschuss. Nicht dabei sind andere Sozialleistungen wie die Familienbeihilfe, Heizkostenzuschuss und die Wohnbeihilfe. Wir müssen seriös diskutieren, wie hoch ein Betrag sein muss, damit man davon leben kann. Und darüber, wie hoch er sein darf, damit sich Arbeiten noch lohnt – und damit die Akzeptanz da ist.
Arbeitsanreize: Es muss sich lohnen, arbeiten zu gehen. Das Medianeinkommen aller unselbstständig Vollzeitbeschäftigten in Österreich lag 2022 bei 47.855 Euro brutto pro Jahr. Das ergibt bei zwölf Gehältern rund 4000 Euro brutto. Bei 4600 Euro netto Sozialhilfe dürfte der finanzielle Arbeitsanreiz nicht besonders hoch sein. Laut einer Studie, aus der der „Standard“ zitiert, müsste das Familieneinkommen bei 6000 bis 7000 Euro brutto liegen, damit man deutlich besser aussteigt. Allerdings ist Geld nicht der einzige Anreiz: soziales Prestige, auf eigenen Beinen stehen, die Pension, Karrierechancen … Es gibt viele. Und wer in der Sozialhilfe die Arbeit verweigert, muss mit Kürzungen rechnen. Wir müssen trotzdem über den Abstand zwischen Sozialhilfe und Erwerbseinkommen diskutieren. Ist die Hilfe zu hoch? Sind die Löhne zu niedrig? Immerhin sind in Vorarlberg etwas weniger als die Hälfte der Sozialhilfebezieher Aufstocker. Sie benötigen Hilfe, obwohl sie arbeiten.
Wohnkosten: Eine mehrköpfige Familie braucht eine entsprechende Wohnung. Vorarlberg bezahlt höchstens 1240 Euro pro Monat für die Wohnkosten. Das entspricht auf dem Privatmarkt ungefähr einer Dreizimmerwohnung inklusive Betriebskosten. Dazu kommt noch die Wohnbeihilfe. Und in Härtefällen kann der Staat noch einmal einspringen. Was übrig bleibt, muss aus den anderen Sozialleistungen bestritten werden. Wir müssen darüber diskutieren, welche Wohnkosten und welche Wohnungen nötig sind, welche zumutbar sind – und wie die Wohnkosten für alle gesenkt werden können.
Relation: Vorarlbergs Landesregierung gab im Vorjahr 2,3 Milliarden Euro aus. Rund 25 Millionen davon für die Sozialhilfe. Würden wir die Sozialhilfe komplett streichen, hätte man ein Prozent gespart. Natürlich dürfen auch die Sozialhilfeausgaben nicht ins Unermessliche steigen. Wir sollten aber die Relation nicht aus den Augen verlieren.
Das gilt auch für die Einzelfälle. In Vorarlberg haben im Vorjahr 74 Haushalte mehr als 2000 Euro Sozialhilfe bezogen. Einzelfälle wird es immer geben. Aber tappen wir nicht in die Einzelfallfalle. Sie verdeckt den Blick auf das große Ganze. Nützen wir die aktuelle Diskussion, um offen und sachlich über die Sozialhilfe und Alternativen zu reden. Aber nicht auf dem Rücken jener, die sie benötigen. Und ohne Wahlkampfgetöse.
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