Radikalisierung: Wenn sich Jugendliche von der realen Welt verabschieden

Neustart-Leiter Johannes Pircher-Sanou erklärt, wie es zur Radikalisierung kommen kann und bei welchen Missständen die Hassprediger ansetzen.
Schwarzach Nach Terroranschlägen bleibt die Bevölkerung mit Erschütterung, Wut und Ratlosigkeit zurück. Das „Warum“ steht im Mittelpunkt. Die Frage, wie man das Attentat hätte verhindern können, ist zentral. Nach der Messerattacke in Villach, bei der ein 23-jähriger radikalisierter Syrer einem 14-jährigen Buben das Leben genommen hat, geraten vor allem Hassprediger aus den sozialen Netzwerken ins Visier.

Der Attentäter war bislang nicht amtsbekannt und radikalisierte sich laut Ermittlungsstand binnen kürzester Zeit. Wie es so weit kommen konnte, kann mehrere Gründe haben, berichtet Johannes Pircher-Sanou, Leiter des Vereins Neustart, der Bewährungs- oder Resozialisierungshilfe für Straftäter leistet. Auch Deradikalisierung steht auf dem Programm, wobei Neustart in Vorarlberg derzeit keine Klienten betreut, die wegen des Anschlusses zu einer extremistischen Vereinigung verurteilt worden sind. Österreichweit zählt der Verein in diesem Bereich durchschnittlich 50 bis 60 Personen zwischen 20 und 30 Jahren zu seinen Klienten.

„Wichtig ist, dass man jeden Fall individuell anschaut und die Ursachen betrachtet, die den Menschen zu einer solch schweren Straftat veranlassen“, erklärt Pircher-Sanou. Oft handle es sich um subjektiv wahrgenommene Unrechtserfahrungen und soziale Umstände, die Personen besonders empfänglich für radikale Gruppierungen und Ideologien machen. „Diese bieten einfache Antworten auf komplexe Lebensfragen, ein Schwarz-Weiß-Denken.“ Ein Wir-Gefühl entstehe; das Gefühl, wieder wo dazuzugehören. Über die sozialen Medien habe sich die Radikalisierung sicherlich beschleunigt. Aufgrund der Algorithmen würden immer wieder gleiche oder ähnliche Ergebnisse abgespielt. „Das heißt, ich befinde mich irgendwann einmal in einer Blase, in der immer wieder die gleichen Meinungen und Weltbilder vertreten werden. Da läuft man Gefahr, dass man sich mit der realen Welt nicht mehr abgleicht“, sagt der Leiter von Neustart. „Das macht es besonders gefährlich. Diese extremistischen Akteure, Influencer, sind sehr gut in ihrer Arbeit. Das sind charismatische Persönlichkeiten. Sie wecken Emotionen bei den Jugendlichen und bieten ihnen damit einen Anlass, sich immer mehr mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen.“ Medienkompetenz wäre daher zentral. Eltern und Bildungseinrichtungen spielten eine zentrale Rolle, betont Pircher-Sanou. Wer Verhaltensänderungen erkenne, solle diese ansprechen. Rückzug, äußerliche Veränderungen, neu geäußerte Ansichten könnten Hinweise sein. Beratungseinrichtungen stünden mit Hilfsangeboten zur Verfügung.
Das gesamte Gespräch mit Johannes Pircher-Sanou können Sie heute, Freitag, ab 12 Uhr auf VOL.at nachsehen. Er gibt dabei außerdem Einblicke in die Bewährungshilfe, Unterstützung nach Haftentlassung, Prävention und Fußfessel.