Kommentar: Die Asyldiskussion als Blaupause für Corona bis Gazakrieg
Ein Kühllaster als Grab. Grauenvoll; und weit mehr als eine Einzelkatastrophe. Der 27. August 2015 änderte den Blick Europas auf den Flüchtlingsstrom grundlegend. Er brachte die deutsche Regierungschefin Angela Merkel dazu, Optimismus als politischen Handlungsleitfaden zu etablieren. “Wir schaffen das!” Deutschland und Österreich ließen die verzweifelten Menschen gewähren, allein am 1. September erreichten 3650 Menschen den Wiener Westbahnhof. Die ÖBB brachten sie nach Wien und weiter nach Deutschland. Was mit Optimismus und gesamtgesellschaftlicher Anstrengung begann, wurde aber zur großen Zerreißprobe. Und ist es bis heute.
Hilfsbereite, so weit das Auge reicht. Alle schienen sich einig zu sein. Das Trügerische ist dem Schein jedoch inhärent. Während die einen am Westbahnhof standen und klatschten, betrachteten die anderen die Menschenmassen aus ihren Fenstern mit Sorge. Zwei Welten, durch eine Scheibe getrennt, die Kommunikation verunmöglichte. Man sprach mit seinesgleichen, vorverurteilte die jeweils anderen. Menschen, die sich um die Integrationsbereitschaft islamisch-konservativ geprägter junger Männer mit fragwürdigen Frauenbildern sorgten, fanden sich auf einer Ebene mit jenen, die in jedem Asylwerber einen Vergewaltiger sahen. Umgekehrt bekamen jene, die sich für Nächstenliebe einsetzten, um Integration kümmerten und die Versäumnisse der Politik durch privates Engagement ausglichen, Träumerei an den Kopf geworfen. Hätte die Gesellschaft schon damals aufeinander gehört, hätte sie sich in gegenseitiger Empathie geübt, viele Corona-Diskussionen wären uns erspart geblieben.
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Sachliche Diskussionen wurden verunmöglicht. Als die Politik erstmals davon sprach, wieder an den Grenzen kontrollieren zu wollen, landete die Debatte beim vermeintlichen Schießbefehl. Der damalige Kanzler Werner Faymann wagte es hingegen nicht, von Zäunen zu sprechen. Unvergessen sein Euphemismus “Türl mit Seitenteilen.” Der Merkelsche Optimismus war spätestens nach der Silvesternacht in Köln verflogen. Die Polarisierung blieb.
Und bleibt bis heute: Wer die Frage stellt, ob das europäische Asylrecht nicht aus der Zeit gefallen ist, wird in Diktaturen verwünscht. Wem ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer ein Graus sind und deshalb die Arbeit von privaten Seenotrettungsschiffen schätzt, wird als Schlepper diskreditiert.
Was in der Flüchtlingskrise an die Oberfläche trat, blieb erhalten. Die Bemühungen der Politik anzuerkennen, die Corona-Pandemie einzudämmen, gleichzeitig Masken unangenehm zu empfinden und Ausgangssperren für überzogen zu halten – war das möglich? Kann man heute den 7. Oktober abscheulich finden, die Hamas als meuchelnde Truppe benennen, die die eigene Bevölkerung in den Abgrund treibt und Juden auslöschen will? Und kann man gleichzeitig mit Befremden auf die Pläne der israelischen Regierung blicken, den Gazastreifen komplett zu übernehmen und fordern, dass die Bevölkerung wieder ausreichend mit Nahrung versorgt wird? Muss man sich für eines entscheiden? Geht nicht beides?
Man darf nicht in die Schwarz-Weiß-Falle tappen. Sich einigeln und anderen Positionen die Legitimität abzusprechen, hilft niemandem. Umgekehrt zerstören Extrempositionen jegliche Diskussion. Hören wir damit auf. Lernen wir wieder, Grautöne auszuhalten.
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