Migrationsforscher: “Wir werfen alles in einen Topf und finden so keine Lösungen”

Grenzkontrollen sind ineffektiv, nachhaltige Rückgänge wie 2016 nur durch Abkommen möglich, sagt Gerald Knaus.
Schwarzach Migrationsforscher Gerald Knaus kritisiert, dass Europa aus der Flüchtlingskrise der vergangenen zehn Jahre zu wenig gelernt hat. Statt differenzierter Analysen gebe es oberflächliche Debatten, sagt er im Interview mit den Vorarlberger Nachrichten. Es brauche realistische, menschenrechtskonforme Lösungen, wie sichere Drittstaatenabkommen. Falsche Versprechen frustrieren Bürgerinnen und Bürger, klare Kommunikation und umsetzbare Konzepte seien entscheidend.
Zehn Jahre Flüchtlingskrise. Was hat Europa seitdem daraus gelernt?
Gerald Knaus Zu wenig. Wir führen eine oberflächliche Diskussion.
Wie meinen Sie das?
Knaus Vor zehn Jahren bewegte das Bild des toten Jungen am Strand von Bodrum die Welt. Nach drei Jahren Bürgerkrieg in Syrien zeigte man erstmals echte Empathie. Die Krise traf vor allem zwei Länder: Österreich und Deutschland. Vier von fünf syrischen Flüchtlingen in Europa fanden dort Schutz. Doch es gibt nicht nur diese eine Krise – auch im zentralen Mittelmeer, an der polnischen Grenze und in Spanien gibt es irreguläre Migration. Diese begannen nicht erst 2015 und unter anderen Bedingungen. Wir werfen jedoch alles in einen Topf – und finden so keine Lösungen.
Muss man diese Krisen trennen?

Knaus 2015/2016 kam plötzlich eine große Zahl Menschen aus der Türkei nach Griechenland und über Südwesteuropa nach Österreich und Deutschland. Bis 2020 ging diese Zahl stark zurück, stieg danach aber wieder drastisch an. Man müsste sich fragen, was den Rückgang und später das starke Wachstum ausgelöst hat. Ich bezweifle, dass sich unsere Politiker dieser Dynamik bewusst sind.
Was wäre die Antwort?
Knaus Wir haben viel über die Balkanroute gesprochen. Sie war auch 2021 bis 2023 geschlossen – dennoch kamen fünfmal so viele Syrer und Afghanen nach Deutschland wie 2020. Grenzkontrollen an Landgrenzen, auch mit Gewalt wie am Balkan, sind also kein wirksames Mittel. Dagegen haben Abkommen wie jenes mit der Türkei 2016 die Zahlen nachhaltig gesenkt. Warum gibt es nicht mehr solcher Abkommen? In den letzten Jahren kam kein weiteres zustande.
Vor einem Jahr bezeichneten Sie die Ernennung von Magnus Brunner als EU-Migrationskommissar als eine gute Wahl. Bleiben Sie dabei?
Knaus Ein Kommissar kann die Politik von 27 Staaten nicht allein ändern, aber er kann den Fokus auf das Hauptthema lenken: sichere Drittstaatsabkommen. Alle Mitte-Parteien in Europa stehen vor der Herausforderung, irreguläre Migration deutlich zu reduzieren – ohne systematisch Menschenrechte, Europarecht und Menschenwürde zu verletzen. Das gelingt nur durch Abkommen.
Die Staaten um Europa sind nicht ausschließlich demokratische Vorzeigestaaten. Sind Abkommen realistisch?
Knaus Es müssen keine Staaten sein, die an der Route liegen. Ich glaube nicht, dass Ägypten, Tunesien oder Libyen sichere Drittstaaten sind. Es geht darum, Staaten zu finden, die Menschen zurücknehmen, damit sie sich eben nicht mehr nach Libyen aufmachen, um dann nach Europa zu gelangen. Wenn wir so ein Land hätten, könnten wir schon im Herbst ein Pilotprojekt beginnen.
Werden falsche Versprechungen gemacht?
Knaus Viele Bürger wurden in den letzten Jahren frustriert, weil Versprechen gemacht wurden, die nicht umsetzbar waren. Eine Abschiebeoffensive anzukündigen und dann nur einige Ausreisepflichtige abzuschieben, reicht nicht. Oder Grenzkontrollen in der EU einzuführen, nur um festzustellen, dass sie aufwendig sind und wenig bringen. Wir brauchen realistische Konzepte und eine klare Kommunikation darüber, welche Werte wir verteidigen wollen. Dafür braucht es humane Lösungen.
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Österreich hat den Familiennachzug von Syrern ausgesetzt. Ist das eine gute Entscheidung?
Knaus Dass man den Familiennachzug bei anerkannten Flüchtlingen stoppt, ist schwierig, weil es offensichtlich europarechtswidrig ist. Offen Europarecht zu brechen, ist keine kluge Strategie der Mitte. Wichtiger ist, dass die EU Einfluss darauf nimmt, die Situation in Syrien so zu verbessern, dass in den kommenden zehn Jahren nicht wieder zehn Millionen Syrer in Europa Schutz suchen müssen.