Kommentar: Allerheiligen und die Grenzen des Heiligen

Heute Freitag feiern die Evangelischen den Reformationstag, morgen Samstag die katholische Kirche Allerheiligen, am Sonntag Allerseelen. Drei Tage, drei Traditionen, ein guter Moment für eine Bestandsaufnahme.
Warum? Es heißt, die österreichische Bundesverfassung garantiere strikte Trennung. In Wahrheit pflegen wir eine höfliche Nähe – kooperativ, historisch gewachsen, politisch bequem – und deutlich älter als unsere Gewissheiten. Denn Österreich hat nie laizistische Strenge geübt, sondern eine Praxis der kurzen Wege zwischen Kanzlei, Kanzel und Klassenzimmer.
Beginnen wir mit einem oft übersehenen Satz aus der Außenpolitik des Inneren: Bevor in Österreich ein Bischof ernannt wird, informiert der Heilige Stuhl die Bundesregierung, so jüngst geschehen in Wien; diese darf “politische Bedenken” anmelden. Kein Vetorecht, aber ein formelles Mitreden – die politische Klausel des Konkordats von 1933, dessen Weitergeltung 1957 präzisiert und bestätigt wurde. Ein Vertragsarchäologe würde sagen: Wir regieren die Gegenwart mit dem Vokabular von vorgestern.
“Strikte Trennung”? Unser Recht anerkennt Religionsfreiheit und Kirchen als Körperschaften – eine kooperative Trennung, österreichisch geprägt. Sie ergibt sich aus Staatsgrundgesetz und einfacher Gesetzgebung, und sie wirkt bis in Klassenzimmer und Ministerrat.
Zum Klassenzimmer: das Kreuz. Der Verfassungsgerichtshof hielt 2011 fest, dass Kreuze in niederösterreichischen Kindergärten (und sinngemäß in Schulen) zulässig sind; kein Glaubenszwang, keine Pflicht zur Identifikation, daher verfassungskonform. Im selben Europa bestätigte der EGMR im italienischen Fall eine ähnliche Linie. Man kann das begrüßen oder kritisieren. Tatsache ist: Das Recht lässt es zu.
Und die Kopftücher? 2020 hob der VfGH das Volksschulverbot als verfassungswidrig auf: zu selektiv, zu wenig neutral, zu wenig verhältnismäßig. Wer Integration will, darf Symbolpolitik nicht mit Schulrecht verwechseln. Der jüngste Entwurf müht sich über dieselben Hürden. Für mich ist das ein Eingeständnis für katastrophal gescheiterte Integration.
Weil gerade Feiertage sind: Der Reformationstag – höchster evangelischer Festtag – erinnert an Widerspruch als Tugend. Vielleicht ist er eine Einladung, alte Arrangements zu prüfen. Muss wirklich eine Regierung vor der Ernennung eines Hirten mitreden? Müssen wir 1933 (samt Engelbert Dollfuß) und 1957 in Dauerschleife spielen, wenn sich die religiöse Landschaft so dramatisch verändert hat?
Apropos Landschaft: Wer oben ankommt, findet unten Kultur: Vielleicht haben Sie noch nie darüber nachgedacht, aber Gipfelkreuze sind keine alpinen Naturgesetze, sondern ein alpenkatholischer Stil – in Österreich flächendeckend (besonders in Vorarlberg und Tirol), in Bayern und Südtirol häufig, in der Schweiz nur in katholischen Kantonen. Sonst: fast unbekannt, oft befremdlich. Auch das ist gelebte Nähe von Religion und öffentlichem Raum. Wer das für Folklore hält, unterschätzt Lehrplan Landschaft.
Ich plädiere – nach Jahrzehnten mit weniger journalistischer Milde – nicht für einen Kreuzzug, sondern für Gegenwartsfähigkeit. Ein modernes Religionsrecht braucht drei Sätze: Freiheit der Religionsausübung. Neutrale Staatlichkeit ohne Ausnahmen. Gleiche Distanz ohne Vorzimmer bei Bischofsernennungen.
Die Kirche? Nicht nur Hüterin von gestern (wie noch heute gegenüber Frauen, beim Zölibat, bei Homosexualität). In Caritas, Bildung, Pflege leistet sie täglich Gegenwart. Der Staat sollte ihr auf Augenhöhe wie anderen Rechtssubjekten begegnen – als Partner im 21. Jahrhundert. Ecclesia semper reformanda: damit auch unsere Rechtswirklichkeit. Die Zeit der stillschweigenden Nähe ist 92 Jahre nach 1933 vorbei. Österreich braucht eine klare Linie zwischen Glauben und Regierung.