Von wütender Diplomatie der Türkei bis hin zur Leugnung des Genozids

Spezial / 23.04.2015 • 22:21 Uhr
Die Klubobleute aller Parlamentsparteien gaben eine Erklärung zum Genozid an Armeniern ab.  Foto: APA
Die Klubobleute aller Parlamentsparteien gaben eine Erklärung zum Genozid an Armeniern ab. Foto: APA

Wiener Erklärung zum Völkermord: Ankara sieht Beziehung „dauerhaft beschädigt“.

Wien. Die Türkei müsste sich eingestehen, dass sie ihr Volk seit über 90 Jahren belogen hatte, antwortet der Vorarlberger Politologe Thomas Schmidinger auf die Frage, warum es dem Land so schwer falle, den Genozid an Armeniern im Osmanischen Reich anzuerkennen. Zwischen 200.000 und 1,5 Millionen Menschen kamen dabei nach Schätzungen ums Leben. Heute, Freitag, gedenken die Armenier weltweit der Opfer, die die Massaker an ihrem Volk vor hundert Jahren forderten. Dies nahmen sich die sechs österreichischen Parlamentsparteien zum Anlass, um eine gemeinsame Erklärung abzugeben, in der sie die Morde als Genozid verurteilten.

Gekränkt und empört

Die türkischen Verbände in Österreich reagierten postwendend schockiert. Sie empfinden die Anerkennung des Völkermordes als Kränkung. Die Erklärung sei „ohne fundierte historisch-rechtliche Befunde erfolgt“, hieß es in einem am Mittwoch veröffentlichten offenen Brief. Noch wütender äußerte sich die türkische Regierungsspitze. In einer Aussendung sprach sie von einem „Massaker des Rechts“. Die Erklärung des österreichischen Parlaments werde die türkisch-österreichische Freundschaft „dauerhaft beflecken“. Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) versuchte seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu über ein Telefongespräch zu besänftigen. Gelungen ist ihm das allerdings nicht. Das Außenamt in Wien schließt ernsthafte Folgen nicht aus. Die Beziehungen sind bereits angespannt. Auf der einen Seite steht die kulturelle Zusammenarbeit. Auf der anderen bremst Wien die EU-Ambitionen der Türkei. Auch das neue Islamgesetz und das damit verbundene Auslandsfinanzierungsverbot stießen in Ankara auf Kritik.

Schmidinger glaubt aber, dass sich der Zorn der Türkei primär auf die österreichische Erklärung zum Völkermord richte. Dieser ist um den hundertsten Jahrestag international sowohl in den Medien als auch in der Politik sehr präsent. „Viele Staaten setzen Anerkennungsschritte“, sagt der Politologe. Rund 20 Staaten haben den Genozid bisher anerkannt, dazu zählen unter anderem Frankreich, die Schweiz, Italien, Russland und Kanada. Auch Papst Franziskus nannte vor wenigen Tagen die Massaker den „ersten Völkermord im 20. Jahrhundert“. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tobte. Er warf dem Papst vor, „Unsinn“ zu reden. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hat am Donnerstag klar von einem „Völkermord“ gesprochen. Der deutsche Bundestag wird heute, Freitag, eine Erklärung abgeben, in der er den Genozid verurteilt. „Die Türkei wird hier grundsätzlich allen mit wütender Diplomatie entgegentreten“, glaubt Schmidinger – wenngleich die Staatsspitze bei Deutschland als größerem Wirtschafts- und Handelspartner „mehr Beisshemmung haben könnte“. Die Türkei spricht von einigen hunderttausenden Toten infolge von Kämpfen und Hungersnöten während des Krieges. Um einen Völkermord handle es sich allerdings nicht, lautet die offizielle Position des Staates. „Das ist Genozidleugnung auf höherem Niveau“, sagt Schmidinger. „Es wäre das gleiche, wenn die Deutschen oder Österreicher sagen würden: Natürlich sind im Zweiten Weltkrieg Juden gestorben, aber wir hatten auch Opfer.“ Irgendwann aber, bleibt der Politologe optimistisch, werde sich auch in Ankara die Erkenntnis durchsetzen, dass man mit dieser Position nichts erreichen kann, sondern sich so nur international isoliert.

Debatte in der Türkei

„Die Debatte sieht in der Türkei heute anders aus, als noch vor zehn Jahren. Es gibt einen  breiteren und offeneren Diskurs über den Genozid. Dass die Türkei so scharf reagiert, hat also auch damit zu tun, dass sie Angst vor Veränderungen innerhalb des Landes hat. Und diese Veränderung geht in Richtung Anerkennung historischer Fakten“, betont Schmidinger. Allerdings fügt er hinzu, dass sich die Position, den Völkermord anzuerkennen, noch lange nicht bei der Mehrheit durchgesetzt habe, nicht einmal in den Eliten. „Aber ich sehe schon ein erstes Bröckeln der Fassade“, sagt er.

Das ist eine Genozid­leugnung auf höherem Niveau.

Thomas Schmidinger

Stichwort

Armenien-Erklärung aus Wien. Aufgrund der historischen Verantwortung – die österreich-ungarische Monarchie war im Ersten Weltkrieg mit dem Osmanischen Reich verbündet – ist es unsere Pflicht, die schrecklichen Geschehnisse als Genozid anzuerkennen und zu verurteilen. Ebenso ist es die Pflicht der Türkei, sich der ehrlichen Aufarbeitung dunkler und schmerzhafter Kapitel ihrer Vergangenheit zu stellen und die im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen an den Armeniern als Genozid anzuerkennen.

Stichwort

Stellungnahme aus Ankara. Die (…) Erklärung (…) ist Anlass zu großer Verbitterung (…). Das österreichische Parlament hat weder das Recht noch die Kompetenz, die türkische Nation eines Verbrechens in einer Weise zu beschuldigen, die im Gegensatz zu den Gesetzen und der historischen Wahrheit steht. (…) Die Ereignisse des Ersten Weltkriegs durch verdrehte Linsen zu betrachten, selektive und (…) diskriminierende Meinungen und so schwere Anschuldigungen (…) auf die leichte Schulter zu nehmen, ist nichts weniger als ein Massaker des Rechts.