Experiment endet in Supergau

Eine Belastungsprobe führte zum bisher schwersten Nuklearunfall der Geschichte.
TSCHERNOBYL. Spätabends am 25. April 1986. Im Block 4 des ukrainischen Kernkraftwerks Tschernobyl startet unter Leitung des stellvertretenden Chefingenieurs Anatoli Stepanowitsch Djatlow ein Experiment, das einen vollständigen Stromausfall am Kernreaktor simulieren soll. Djatlow will den Nachweis erbringen, dass nach einer daraufhin notwendigen Reaktorabschaltung eine ausreichende Stromversorgung gewährleistet ist. Für diesen Versuch werden die Sicherungssysteme außer Betrieb gesetzt.
Samstag, 26. April. Um 1.23 Uhr steigt während des Experiments auf einmal die Leistung des Reaktors binnen Sekunden an. Die manuelle Notabschaltung funktioniert nicht. Entstehender Wasserstoff explodiert und zerstört den Reaktor. Der Grafitmantel der Brennelemente gerät in Brand.
Warnung in Vorarlberg
Tags darauf beginnen sogenannte Liquidatoren (Beseitiger von radioaktivem Abfall) mit der Zwangsevakuierung der Bewohner in der Zone um das AKW und der vier Kilometer entfernten Stadt Prypjat sowie mit der Dekontamination der am stärksten betroffenen Gebiete im Umkreis des Kernkraftwerks.
Erst drei Tage später, am 29. April, berichtet die sowjetische Regierung in Moskau erstmals von einer „Katastrophe“, die zwei Todesopfer gefordert habe. Andere Berichte über Tausende Tote werden dementiert.
Am 30. April und 1. Mai ziehen radioaktiv verstrahlte Wolken über Schweden, Deutschland, Österreich und die Schweiz.
In Vorarlberg wird die Bevölkerung aus Sorge wegen erhöhter Radioaktivität vor der Konsumation von frischem Gemüse aus dem Garten und Pilzen gewarnt. Kinder dürfen nicht im Freien spielen. Man sieht Hausbesitzer, die mit Geigerzählern die Strahlung auf ihren Grundstücken messen.
Im AKW Tschernobyl ist zwischenzeitlich ein Teil der Betriebsleitung wegen Versagens entlassen worden. Der neue Direktor lässt am 15. Juni die zwei unbeschädigten Reaktorblöcke wieder in Betrieb gehen. Um den havarierten Reaktor wird ein Betonsarkophag gebaut.
Viele Menschen, die am Tag des Unglücks die Brände im AKW löschen oder später dann als Liquidatoren den Betonsarkophag um die explodierte Reaktorhalle bauen, sterben sofort oder kurze Zeit danach. Von den geschätzten rund 600.000 Personen, die an den Aufräumarbeiten beteiligt sind, erkrankt ein großer Teil an Krebs und stirbt an den Folgen. In den am ärgsten betroffenen Regionen ist es zu mehr als 7000 Schilddrüsenkarzinom-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit mindestens 20 Todesfällen gekommen. Weiters sollen insgesamt bis zu 17.000 Menschen in der Ukraine und im angrenzenden Weißrussland an Leukämie leiden.
Das Tschernobyl Forum und die Internationale Atomenergiebehörde IAEA registrierten schon bis 2005 mehr als 4000 Todesfälle infolge der Strahlung. Greenpeace und andere schätzen die Zahl auf das Zehnfache. Genaue Opferzahlen des bisher schwersten Nuklearunfalls in der Geschichte können indes bis heute nicht genannt werden.
Heute, 30 Jahre nach dem Supergau von Tschernobyl, herrscht um die Atomruine in der Ukraine eine seltsame Mischung aus Trostlosigkeit und Geschäftigkeit. Das einstige Vorzeigekraftwerk der Sowjetunion produziert seit dem Jahr 2000 keinen Strom mehr. Der Reaktorsarkophag hat indes Risse bekommen und muss dringend ummantelt werden.
Hülle für Sarkophag
Mittlerweile haben die Arbeiten an einer neuen Schutzhülle begonnen. Dieses zwei Milliarden Euro teure Hochtechnologieprojekt, wird von rund 40 Staaten, internationalen Gebern und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung finanziert.
Das gigantische Bauwerk, das aussieht wie eine 30 Stockwerke hohe Stahlhülle, entsteht einige Hundert Meter entfernt und soll auf Schienen langsam über den Sarkophag gefahren werden. Danach sollen Roboter unter dem Schutz des neuen Deckels beginnen, die alte Hülle und das zerstörte Gebäude zu demontieren. Die radioaktiven Trümmer sollen gesammelt und in ein nahes Lager gebracht werden. Wenn alles klappt, beginnt dies im kommenden Jahr.
Prypjat ist heute eine Geisterstadt. Dorthin kommen zurzeit nur noch Touristen, um die gruseligen Überreste des einst pulsierenden Lebens zu bestaunen.

Die UdSSR wiegelt ab.
