Vom Privileg der Muße
Der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß hat es 2019 vorgemacht: Er zog sich in sein Arbeitszimmer zurück und begab sich damit auf eine der abenteuerlichsten Reisen seines Lebens. Denn all die Dinge, die sich in so einem Zimmer ansammeln, haben ihre je eigene Geschichte.
Der antike Brieföffner etwa, der schon in Vaters Büro lag – rasch steigt der eigentümliche Geruch aus Holz und Linoleum von damals wieder in die Nase. Oder ein in den Tiefen der Schreibtischschublade verwahrtes Geodreieck, in das der Schüler mit krakeliger Schrift seinen Namen eingraviert hatte. Es wanderte bis zur Matura über unzählige karierte Hefte, auf denen die Zirkelspitze kleine Löcher hinterließ. Sie stak auch einmal für einen kurzen Augenblick im Hinterteil eines Kontrahenten, aber das ist eine andere Geschichte.
So wird die zwangsverordnete Einsiedelei zum Erinnerungsplaneten, der viel zu erzählen hat, wenn wir ihm die Zeit dazu lassen. Aber das ist ein ungeheures Privileg. Täuschen wir uns nicht: Die alleinerziehende, berufstätige Mutter etwa hat dieser Tage weniger Muße denn je, sich zu verweilen. Sie ficht ihren eigenen Überlebenskampf, allein, wie der Name schon sagt.
Thomas Matt
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