Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Kommentar: Mit der Endlichkeit leben

VN / 10.11.2025 • 15:00 Uhr

Es waren nur wenige Augenblicke, die für den ORF-Korrespondenten Christian Wehrschütz und sein Team den Unterschied zwischen Leben und Tod machten. Vergangenen Samstag wurde der langjährige Kriegsberichterstatter (Offenlegung: ein ORF-Kollege von mir) bei einer Fahrt in der Ostukraine von einer mutmaßlich russischen Drohne angegriffen. Nach hektischen Rufen eines seiner Begleiter auf Ukrainisch – „Schnell raus!“ – verließ die Gruppe fluchtartig das Fahrzeug und suchte Deckung neben der Straße.

Bei Ansicht des Videos, das Wehrschütz Samstagvormittag zuerst auf der Plattform Instagram veröffentlichte, kann man das Grauen des Krieges deutlich spüren: Noch sitzt man gemeinsam im Auto, ein paar Sekunden später rennt man um sein Leben – weil ein Mann aus der Gruppe offenbar die Drohne gerade noch auf das Fahrzeug zukommen sah. Wehrschütz und die anderen Mitreisenden, Mitarbeiter der ukrainischen Hilfsorganisation Proliska und eine spanische Journalistin, blieben unverletzt. In der ZIB13 meldete sich Wehrschütz und sagte: „Wir hatten fünf Schutzengel und einen reaktionsschnellen Mitarbeiter.“

Jagd auf Reporter

Der Angriff auf die Berichterstatter veranschaulicht, wie sich die Kriegsführung im Abnutzungskrieg verändert hat, laut Experten jagen russische Drohnen nun gezielt Journalisten und Zivilistinnen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichtet etwa vor wenigen Tagen, wie der Tod des französischen Fotojournalisten Antonio Lallican und die schwere Verwundung seines ukrainischen Kollegen Georgiy Ivanchenko im Donbas Anfang Oktober eine „düstere Zäsur“ in der Kriegsberichterstattung markieren würden. „Zum ersten Mal in der Geschichte werden billige, zugleich hochpräzise Waffen massenhaft gegen einzelne Menschen eingesetzt. Es gibt genug Drohnen, um gezielt Soldaten, Journalisten oder Zivilisten zu verfolgen”, sagt Francis Farrell, Korrespondent beim „Kyiv Independent“ der „FAZ“. Damit werden Reporter und Reporterinnen immer weiter von der Front zurückgedrängt.

Doch wenn sie nicht mehr für die Welt sehen, hören und berichten können, wird das Kriegsgeschehen undurchschaubar. Und dort, wo niemand Öffentlichkeit herstellen kann, ist die Gefahr von Kriegsverbrechen und schrecklichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung noch größer. „Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben“, schrieb der dänische Philosoph Søren Kierkegaard 1849 – und man muss feststellen, dass die Sorge heute eine Konstante in der menschlichen Existenz darstellt, gerade auch bei jenen Menschen, die von Kriegsschauplätzen berichten. Sie leben und arbeiten mit dem Bewusstsein, dass die Endlichkeit uns immer begleitet.

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.