Keiner weiß, was sie verstehen

Auf der Wachkoma-station. Ein Ort mit Geheimnisträgern der ganz besonderen Art.
Rankweil. „Fritz* war nie ein Kind von Traurigkeit“, lächelt Stationspflegeleiter Johannes Frick (35), während er mit Blick auf den 51-jährigen Mann dessen Finger massiert. Fritz ist Patient auf der Wachkomastation. Er liegt in seinem Spezialpflegebett, Augen geöffnet, einen Schluckhilfeapparat an der Kehle. Fritz ist ein Beispiel für einen Menschen mit einer „extremen Lebensform“. So beschreiben die Fachleute den Begriff Wachkoma. Vor zehn Jahren fuhr ihn ein Auto auf dem Zebrastreifen zusammen. Fritz war völlig unschuldig. Seitdem liegt er mit einer schweren Hirnschädigung im LKH Rankweil. „Wir zeigen ihm Fotos von schönen Frauen. Die hat er immer gemocht. Dann kommt von ihm ein Lächeln“, ergänzt Frick.
Therapiehelfer Biografie
Die Biografie des Patienten spielt bei der Betreuung von Wachkomapatienten eine wesentliche Rolle. „Wir erkundigen uns im persönlichen Umfeld des Patienten, was er früher gemocht hat. Das wird dann ein wesentlicher Bestandteil der Therapie“, erklärt Frick. So wie bei Rudi * (71). Der konnte es immer sehr gut mit Kindern. Vor Weihnachten organisierten die Pfleger für ihn den Besuch von Kindern eines Kinderhortes. Die jungen Besucher veranstalteten für Rudi ein kleines Konzert. „Das hat ihn gefreut und seine Reaktion war entsprechend.“
Fritz und Rudi liegen in einem Viererzimmer. Herbert* (51) und Paul* (63) komplettieren das Quartett. Sie sind alle Langzeitpatienten. Für Laien mag der Anblick der vier Männer, die in ihren Betten scheinbar wahrnehmungslos vor sich hinröcheln, beklemmend sein, für Pfleger, Ärzte und Angehörige ist er es nicht. Den insgesamt zwölf Patienten auf der Wachkomastation geht es im Rahmen des Möglichen gut. Sie werden regelmäßig mobilisiert. Sie werden ins Freie geführt, man macht Ausflüge mit ihnen. Der Wildpark, die Seebühne, der Pfänder – die Ziele sind vielfältig. Alle drei Stunden werden sie in ihren Betten umgelagert.
Sichtbares Wachkoma
Die Kommunikation mit jedem Einzelnen erfolgt nach klaren Ritualen. „Ich mache das so, dass ich vor dem Kontakt den Patienten an der Schulter packe. Ich signalisiere ihm dadurch: ‚Jetzt bin ich nur für dich da‘“, erzählt Pflegeleiter Frick. Der gesellschaftliche Umgang mit Langzeit-Wachkoma hat sich wie der pflegerische in den letzten zehn Jahren verändert. „Das Wachkoma sieht man, weil man die Patienten bei unseren Ausflügen sieht. Früher war man mit ihnen nicht unterwegs“, berichtet Prim. Albert Lingg (64), unter dessen Ägide die Wachkomastation in Rankweil entstand.
Hoch sensibel
Und doch: Wachkomapatienten wie Fritz und Rudi bleiben in ihrem Zustand Geheimnisträger. „Wir können nie wissen, was sie in welchem Umfang tatsächlich alles wahrnehmen“, sagt Dr. Lingg. Dementsprechend halten sich Ärzte und Pfleger auch mit Prognosen zurück. Im Umgang mit den Angehörigen versuchen sie einen Weg zwischen Realismus und Hoffnung einzuschlagen. Ling: „Das ist höchst sensibel. Es hat keinen Sinn, übertriebene Hoffnung zu schüren. Aber man darf auch nie die Hoffnung verlieren.“
Dass sich Hirnverletzungen wie jene von Ex-Formel 1-Weltmeister Michael Schumacher (45) lange Zeit nicht qualifizieren lassen, kann der Psychiater nur unterstreichen. „Da gibt es die verschiedensten Verläufe. Nur ein geringer Teil nimmt eine Entwicklung wie jene bei unseren Patienten. Bis Klarheit herrscht, hilft nur warten und hoffen auf den lieben Gott.“
Optimale Qualität
Fritz, Rudi, Paul und Herbert werden nie mehr aufstehen, gehen und ein normales Leben führen können. Dieser Illusion darf sich niemand hingeben. Aber ihr Leben hat durch die perfekte Betreuung an der Wachkomastation eine den Umständen entsprechende optimale Qualität. Und was sie alles verstehen, hören und wahrnehmen – niemand weiß es. Vielleicht ist es viel mehr, als sich alle vorstellen können.
*Name von der Redaktion geändert
Wir erkundigen uns, was die Patienten früher gerne mochten.
Johannes Frick


