„Es sind fürchterliche Geschichten“

Vorarlberg / 19.06.2015 • 21:59 Uhr
Werner Jochum
Werner Jochum

Suizidgefahr und zerrüttete Familien – Experte Jochum kennt die Folgen der Spielsucht.

Bludenz. Die Spielsucht ist im Steigen begriffen, die Betroffenen – zumeist Männer – leiden darunter genauso wie deren Angehörigen; die illegalen Spielhöllen haben eine magische Anziehungskraft; oft melden sich die Frauen der süchtigen Männer als Erste bei den Therapiestellen: Das sind nur einige der Aussagen des Psychotherapeuten und Suchtexperten Werner Jochum im ausführlichen VN-Interview.

Wie groß ist das Problem Spielsucht in Vorarlberg?

Jochum: Das Problem ist stark im Steigen begriffen. Von den 1600 Menschen, die im Vorjahr eine der drei Clean-Beratungsstellen aufsuchten, waren neun Prozent Angehörige oder Betroffene einer Spielsuchtthematik. Vor zwei Jahren waren es noch knapp sieben Prozent.

Wie gerät man in die Mühlen der Spielsucht? Was spielen sich da für Prozesse ab?

Jochum: Betroffene berichten häufig, dass sie zuerst aus Langeweile oder Zufall spielten. Oft waren es am Anfang kleinere oder größere Gewinne, die dazu führten, verstärkt und mit höheren Einsätzen zu spielen. Irgendwann kommen sie dann nicht mehr an den Spielhallen vorbei, bzw. diese ziehen sie magisch an. Ein Mann erzählte mir einmal, dass er Geld abgehoben hatte, um eine Stunde später mit seiner Frau zum Einkaufen zu gehen. Als er das Geld verspielt hatte und nichts mehr abheben konnte, bat er den Spielhallenbetreiber, er möge ihm wenigstens 50 Euro geben, weil er für die Familie einkaufen müsse. Der wies ihn zurück. Das gehe ihn nichts an, das sei nicht sein Problem.

Wann suchen die Süchtigen professionelle Hilfe?

Jochum: Meist ist es der Druck von Angehörigen oder sprichwörtlich das „rien ne va plus“, also wenn für die Partner oder Kinder finanziell einfach nichts mehr geht. Es kann lange dauern, bis jemand in seinem Bekanntenkreis kein Geld mehr geliehen bekommt oder die Schulden so hoch sind, dass keine Bank mehr Kredite gewährt.

Was für Tragödien kann Spielsucht auslösen?

Jochum: Es sind fürchterliche Geschichten, die ich in den Erstgesprächen zu hören bekomme. Wenn etwa ein Familienvater von seiner Scham der Frau und den Kindern gegenüber berichtet, oder von seinen Suizidgedanken und der Aussichtslosigkeit seiner Situation. Es sind Geschichten voller Lügen und Betrug, und immer belügt der Spieler oder die Spielerin sich selbst am meisten und am längsten. Immer ist die Hoffnung da, dass er jetzt Glück haben wird und alles zurückgewinnt, was verloren war.

Binden Sie die Familienmit­glieder in die Therapie ein?

Jochum: Der Idealfall ist immer, wenn sich die Familienangehörigen einbinden lassen. Das bringt höhere Chancen und raschere Fortschritte beim Ausstieg aus den Lügengebäuden. Denn auch die Angehörigen neigen dazu, zu verharmlosen und zu vertuschen, was nicht hilfreich ist. Oft geht es darum, dass der Spielsüchtige die Kontrolle über seine Finanzen abgibt und an jemanden überträgt, weil er selbst damit hoffnungslos überfordert ist.

Welche Art von Spielsucht ist die häufigste, bzw. die gefährlichste?

Jochum: Das größte Gefährdungspotenzial besitzen zweifellos die Glücksspielautomaten. Der höchste Anteil von pathologischen Spielern findet sich unter den Nutzern des Automatenspiels in der Spielhalle – 47 Prozent, gefolgt von den Sportwettenkonsumenten mit 20 Prozent, den klassischen Casino-Spielern mit 18 Prozent und den Automatenspielern im Casino mit 15 Prozent. Das heißt: Beinahe jeder zweite Automatenspieler in einer dieser Spielhallen weist ein pathologisches Spielverhalten auf.

Wie viele Ihrer Klienten gehen in illegale Spielhöllen?

Jochum: Es sind knappe zehn Prozent der von uns betreuten Menschen. Doch auch für unsere primäre Zielgruppe der Drogenabhängigen ist das Spielen ein Thema. Immer wieder kommt es zu Suchtverlagerungen, das heißt, dass an die Stelle der illegalen Droge die legale Droge Alkohol oder das Spielen tritt.

Wann ist jemand von seiner Sucht geheilt?

Jochum: Geheilt ist er, wenn er andere Lösungsstrategien für seine Ängste, Trauer, Ohnmacht oder Konflikte gefunden hat, als zu spielen. Wenn er sagen kann: ‚Ich brauche das Spiel gar nicht mehr, es geht mir gut mit meinem Leben.‘

Am gefährlichsten sind die Glücksspielautomaten.

Werner Jochum

Zur Person

Werner Jochum

Der vierfache Familienvater ist Theologe und Psychotherapeut. Er ist seit 16 Jahren in der Suchtberatung tätig und leitet das Clean in Bludenz.