Visionslos oder feige?
Vor über vier Jahren habe ich in einem Kommentar in dieser Zeitung geschrieben, dass wir in Europa ein gemeinsames Asylwesen benötigen und dazu den Nationalstaaten Kompetenzen entzogen werden müssten. Der Gedanke war zugegebenermaßen damals schon nicht besonders visionär, sondern nur eine Überlegung, die eigentlich von vielen Entscheidungsträgern geteilt, aber nicht öffentlich geäußert wurde.
Heute sind wir noch immer nicht weitergekommen, nur die Probleme sind viel größer geworden. Die Tatsache, dass die Kompetenzen der Nationalstaaten in dieser Frage massiv reduziert und die europäische Ebene gestärkt werden muss, tritt noch deutlicher zutage. Die wieder eingeführten Grenzkontrollen sind verzweifelte Reaktionen der bedrängten Nationalstaaten. Sie führen zu nichts anderem als zu stundenlangen Zugverspätungen und kilometerlangen Staus. Sie beweisen genau das Gegenteil von dem, was ihnen eigentlich zugedacht ist: Sie demonstrieren, dass die Rückkehr zum früheren Status quo der Personenkontrolle praktisch nicht mehr möglich ist. Außerdem sind sie sinnlos: Die Grenzkontrolle kann ja nicht dazu führen, dass die Menschen zurückgeschickt werden. Sie müssen vielmehr registriert werden, und ein Asylverfahren ist durchzuführen.
Es wird gar nichts anderes übrigbleiben, als das Asylwesen zur europäischen Kompetenz zu machen: Die EU wird festzulegen haben, welche Standards ein Asylverfahren vor den Behörden in den Mitgliedern der EU einzuhalten hat, welche Standards für die Unterbringung der Asylwerber gelten, und welche Staaten sichere Herkunftsländer sind. Wenn einer Person Asyl gewährt wird, darf sie sich in ganz Europa aufhalten, wenn sie kein Asyl erhält, muss sie Europa wieder verlassen. Dazu braucht es keine europäische Monsterbehörde, sondern lediglich klare Vorgaben.
Eine Verteilung der Asylwerber auf Europa nach fixen Quoten halte ich dagegen für sinnlos. Die Menschen werden immer versuchen, dorthin zu gelangen, wo sie sich die meisten Zukunftschancen versprechen. Dass diese Wahrheiten von den Entscheidungsträgern in Europa nicht ausgesprochen werden, beweist nur, wie kleinmütig, visionslos oder gar feige sie sind.
Die wieder eingeführten Grenzkontrollen sind verzweifelte Reaktionen der bedrängten Nationalstaaten.
peter.bussjaeger@vorarlbergernachrichten.at
Peter Bußjäger ist Direktor des Instituts für Föderalismus
und Universitätsprofessor in Innsbruck.
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