In Glarus hat das Volk immer das letzte Wort

Die Bürger stimmen im Ring jedes Jahr über Steuern, Gesetze und Postenbesetzungen ab.
Glarus. „Hochverehrte, liebe Mitlandleute!“ Mit diesen Worten begrüßte Landammann Röbi Marti das anwesende Stimmvolk. Mit schwarzem Hut auf dem Kopf und Schwert in der Hand eröffnete er den Abstimmungsreigen auf dem Zaunplatz in Glarus. Es ist der 1. Mai. Wie jedes Jahr sind die Bürger des Kantons Glarus aufgerufen, Entscheidungen der Politik zu beraten, abzulehnen oder abzusegnen: „Zu raten, zu mindern und zu mehren.“
Volk wählt Regierungschef
„Hochverehrte, liebe Mitlandleute!“ Die Mitlandleute, das sind die anwesenden Glarner. Jeder Redner – ob Politiker, ob Präsident der Handelskammer, ob einfacher Bürger – beginnt seine Ausführung auf dem Podium mit diesen Worten. Das Podest steht in der Mitte des Rings, der extra für den Tag aufgebaut wurde. Landammann Röbi Marti verwendet die Worte zum letzten Mal. Nach acht Jahren muss ein Nachfolger her. Landammann heißt dort der Landeshauptmann. Er ist Vorsitzender der Kantonsregierung und führt durch die Abstimmung. Also: Wer wird Nachfolger? Röbi Marti fragt die Glarner. Ein Name hallt ihm entgegen. Röbi Marti sagt: „Jetzt schließen Sie bitte die Schirme und heben die Hand, falls Sie dafür sind“, und blickt in die Runde. Die überwältigende Mehrheit hebt die Abstimmungskarten. Es ist das „größere Mehr“. Das war’s, Röbi Marti übergibt das Schwert, verlässt das Podium. Rolf Widmer hebt die drei Schwörfinger, spricht die Schwörformel und ist der neue Landammann des Kantons Glarus.
„Hochverehrte, liebe Mitlandleute!“ Rolf Widmer bedankt sich und geht zum nächsten Tagespunkt. Das Zivilgericht braucht einen neuen Richter. Die Prozedur gleicht der Benennung Widmers: Vorschlag, abstimmen, Schwörfinger, fertig. Seit 200 Jahren wird auf dem Zaunplatz abgestimmt. Rund 40.000 Einwohner zählt der Kanton, einige Tausend fanden diesmal den Weg in den Ring. Das ist zwei Dingen geschuldet: dem nasskalten Wetter und den Themen, Traktanden genannt. Diese bekommt jeder Glarner einige Wochen vor der Abstimmung zugeschickt. 108 Seiten umfasste das Memorial, in dem alle Traktanden beschrieben sind.
„Hochverehrte, liebe Mitlandleute! Wenn Ihnen die Linken und die Rechten sagen, da ist etwas faul, glauben Sie mir, dann ist etwas faul.“ Diese Worte stammen vom Abgeordneten Jacques Marti (SVP). Die Regierung will per Gesetz eine gemeinsame Informatikabteilung für die Gemeinden festlegen. Die Regierungsmitglieder werben regelrecht um ihre Idee. Dennoch schwindet mit jeder Minute die Zustimmung im Ring. Das Ergebnis ist eindeutig: Gesetz zurückgewiesen.
Radikale Gemeindereform
„Hochverehrte, liebe Mitlandleute! Mir würden drei Gemeinden reichen.“ So ähnlich muss der Satz gelautet haben, der die Verwaltung des Kantons vor zehn Jahren auf den Kopf gestellt hat. Eigentlich stand ein Vorschlag zur Debatte, die 28 Gemeinden in zehn zusammenzulegen. Am Ende stimmte die Bevölkerung für einen noch radikaleren Einschnitt. Glarus besteht jetzt aus den drei Gemeinden Glarus Nord, Glarus Mitte und Glarus Süd. An diesem Sonntag, zehn Jahre später, wenden sich die Bürger selten gegen die Regierung. Sie stimmen für fünf Tage Vaterschaftsurlaub in öffentlichen Betrieben, die Regierung wollte nur zwei. Fast diskussionslos und nahezu einstimmig behalten die Glarner ihren Steuersatz und befürworten 1,9 Millionen Franken Förderung für die Kunsthaus-Sanierung.
Nach vier Stunden können die hochverehrten, lieben Mitlandleute den Ring verlassen. Die Regierung hat nun ein Jahr Zeit, das Informatikgesetz zu überarbeiten. „Macht sie das gut, werden auch die Bürger zustimmen“, sagt ein älterer Herr. Demokratie in Reinkultur.


