Abweichende Meinung
Der Vorschlag des SPÖ-Justizsprechers, den Richtern des Verfassungsgerichtshofs, die in der Abstimmung über eine bestimmte Rechtsfrage unterlegen sind, in Zukunft zu ermöglichen, ihre abweichende Meinung im Urteil öffentlich bekannt zu geben, klingt zuerst einmal vernünftig. Weshalb soll Transparenz bei den Entscheidungen der Höchstrichter etwas Schlechtes sein?
Auch der internationale Vergleich scheint dies zu bestätigen: Ihre abweichende Meinung dürfen beispielsweise die Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg oder des deutschen Bundesverfassungsgerichts veröffentlichen. Dadurch wird auch die Position der Mitglieder des jeweiligen Gerichts in gesellschaftspolitisch umstrittenen Fragen wie bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, der Abtreibung oder der Vorratsdatenspeicherung sichtbar. In den USA wird das Abstimmungsverhalten der Richter des Supreme Court sogar wissenschaftlich auf einem links-rechts-Spektrum untersucht. Nicht zuletzt wegen dieser gesellschaftspolitischen Bedeutung der Höchstrichter streitet Präsident Obama schon seit Monaten mit dem Kongress über die Nachbesetzung eines vakant gewordenen Richterpostens.
Nicht alles, was anderswo praktiziert wird und dort mehr oder weniger funktioniert, muss gut für Österreich sein. Es ist ja schon verräterisch, dass die Forderung nach der Einführung der im juristischen Sprachgebrauch so bezeichneten „dissenting opinion“ ausgerechnet zu dem Zeitpunkt erhoben wird, da der Verfassungsgerichtshof mit einer wohl richtigen, aber bei manchen Juristen umstrittenen Entscheidung eine Wiederholung der Bundespräsidentenwahl angeordnet hat. Bereits kurze Zeit danach wurde gemunkelt, die Entscheidung sei nicht einstimmig gefallen.
Es liegt auf der Hand, dass die Einführung der abweichenden Meinung dazu missbraucht werden kann, dass die politischen Parteien das Abstimmungsverhalten der von der Bundesregierung und den Mehrheiten im Nationalrat und Bundesrat bestellten Verfassungsrichter auf eine gewisse Art kontrollieren. Natürlich würden die Richter unabhängig bleiben, aber es würde ein Druck aufgebaut, sichtbar zu machen, wer in einer umstrittenen Frage wie abgestimmt hat. Außerdem könnte der Gerichtshof in progressive und konservative Richter aufgesplittert werden, was der Autorität seiner Entscheidungen abträglich wäre. So lange der Verfassungsgerichtshof die „dissenting opinion“ nicht selbst wünscht, sollte man den Vorschlag nicht weiterverfolgen.
Weshalb soll Transparenz bei den Entscheidungen der Höchstrichter etwas Schlechtes sein?
peter.bussjaeger@vorarlbergernachrichten.at
Peter Bußjäger ist Direktor des Instituts für Föderalismus
und Universitätsprofessor in Innsbruck.
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