Die angebliche Selbstjustiz eines Missbrauchsopfers

Frau als Kind mindestens 50 Mal vergewaltigt: Drastischer Fall beschäftigt Gericht und Rechtsanwalt Christoph Dorner.
Feldkirch Margarethe S. (Name von der Redaktion geändert) hört seit Jahren jeden Morgen diese Stimme. Eine Stimme, die die 49-Jährige aufschrecken lässt und extreme Angstzustände in ihr auslöst. Es ist die Stimme ihres Peinigers, der sie im Alter zwischen sieben und elfeinhalb Jahren mindestens 50 Mal vergewaltigt hatte. Und sie hört ihn noch heute. Tag für Tag. Auch im Landeskrankenhaus Rankweil. Dort sitzt die Vorarlbergerin seit dem 21. September 2019 in Untersuchungshaft. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Feldkirch – wegen versuchten Mordes.
Bei ihrem angeblichen Opfer handelt es sich um jenen heute 81-jährigen Mann, einst Arbeitskollege ihres Vaters, der sie als Mädchen über Jahre hinweg massivst sexuell missbraucht hatte. So stellte es zumindest das Oberlandesgericht Innsbruck im Urteil eines Berufungsverfahrens fest.
Suizidversuche
Nach ihrem entsetzlichen Martyrium weihte Margarethe S. zunächst niemanden ein. Doch wachsende psychische Probleme quälten ihre Seele auf traumatische Weise. 14 Jahre lang. Sie unternahm mehrere Suizidversuche. Schließlich, es war im Jahr 1996, entschloss sie sich zur psychiatrischen Behandlung. Zugleich erwachte in ihr der Drang, gegen ihren damaligen Peiniger vorzugehen. Zunächst rechtlich. Margarethe S. wandte sich an den Bregenzer Rechtsanwalt Christoph Dorner und beauftragte ihn, Strafanzeige gegen den Mann bei der Staatsanwaltschaft Feldkirch einzubringen.

Missbrauch verjährt
Doch was dann folgte, war aus heutiger Sicht skandalös. Dorner erinnert sich gegenüber den VN: „Nach den damaligen Strafbarkeits-Verjährungsvorschriften war der massive sexuelle Missbrauch allerdings verjährt. Das Ermittlungsverfahren gegen den Peiniger meiner Mandantin wurde eingestellt.“
Noch nicht „veraltet“ waren allerdings die schadenersatzrechtlichen Ansprüche seiner Mandantin. Dorner brachte eine Schadensersatzklage in der Höhe von damals 750.000 Schilling ein. Und blitzte damit in erster Instanz ab. Doch er gab nicht auf, wandte sich ans Oberlandesgericht Innsbruck und hatte in zweiter Instanz Erfolg: „Das Oberlandesgericht Innsbruck hat nach einem sehr umfangreichen Beweisverfahren das Urteil des Landesgerichts Feldkirch umgedreht und festgestellt, dass überhaupt kein Zweifel daran besteht, dass meine Mandantin im Zeitraum 1978-1982 massiv sexuell missbraucht worden ist.“, sagte der Anwalt zu den VN. Margarethe S. wurden 750.000 Schilling als Schmerzengeld zugesprochen. Bezogen auf den damaligen Zeitpunkt handelt es sich dabei um das höchste, je einem Vergewaltigungsopfer zugesprochene Schmerzengeld.
An der Haustüre des Peinigers
Für das Opfer zu wenig für die erlittene seelische Qual. Viel zu wenig. Im Juli 2019 klingelte die Frau an der Haustür des mittlerweile sehr gealterten mutmaßlichen Täters. Mit einem Messer in der Hand. Doch die Tür wurde nicht geöffnet. Margarethe S. gab ihren ursprünglichen Plan, ihren ehemaligen Peiniger zu töten, auf. Und zwar aus freiem Entschluss, ist ihr Rechtsanwalt überzeugt. Dorner: „Sie war nach ihren eigenen Angaben, nachdem sie von der Haustür wieder abgezogen war, erleichtert. Damit steht für mich aber fest, dass sie vom Versuch, ihren Vergewaltiger zu töten, freiwillig zurückgetreten und somit ihr Verhalten strafrechtlich nicht relevant ist.“
Nicht zurechnungsfähig
Doch die Staatsanwaltschaft sah das anders und qualifizierte das Verhalten der Margarethe S. als Mordversuch. Über Antrag der Staatsanwaltschaft verhängte das Landesgericht Feldkirch die Untersuchungshaft.
Aufgrund eines in der Zwischenzeit bei Dr. Reinhard Haller eingeholten Gutachtens steht fest, dass Margarethe S. die ihr vorgeworfene Tat im psychotischen Zustand, welcher auf die mehr als 40 Jahre zurückliegenden zahlreichen Vergewaltigungen zurückzuführen ist, begangen hat und wegen dieser schweren Störung nicht mehr in der Lage war, ihre seit vielen Jahren bestehenden aggressiven Impulse zu kontrollieren. Damit kann aber, so Dorner, Margarethe S. aufgrund Unzurechnungsfähigkeit nicht wegen Mordversuchs verurteilt werden, selbst wenn das Geschworenengericht zur Auffassung gelangen sollte, dass Margarethe S. vom Mordversuch nicht freiwillig zurückgetreten ist. Schlimmstenfalls könnte Margarethe S. in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingeliefert werden. Sollte im Geschworenengerichtsverfahren bestätigt werden, dass Margarethe S. ihre Emotionen gegenüber ihrem Vergewaltiger im Griff hat, dann bestehen laut Dorner gute Chancen, dass der von der Staatsanwaltschaft Feldkirch beantragte Maßnahmenvollzug nicht bzw. nur bedingt unter Auflagen verhängt werden wird, wenn überhaupt ein Mordversuch angenommen wird.