Reinhard Haller

Kommentar

Reinhard Haller

Menschelnde Wissenschaft

Vorarlberg / 25.06.2020 • 06:59 Uhr

Wenn man die im Verlauf der Coronakrise von Virologen, Epidemiologen und anderen befassten Wissenschaftlern geäußerten Risikoeinschätzungen analysiert, kommt man aus der Verunsicherung nicht mehr heraus. Es handle sich um eine Art heftiger Grippe, sagen die einen. Nein, um eine verheerende Seuche, vergleichbar mit der 30 Millionen Menschenleben fordernden Spanischen Grippe, so die anderen. Manche sehen die Gefahr einer noch dramatischeren 2. Welle, andere verheißen ein lockeres Leben mit dem entschärften Virus. Die Warnungen reichen von Kollatralschäden des Lockdown bis zu dessen fahrlässiger Aufhebung. Kinder seien sogenannte Superspreader oder, ganz im Gegenteil, weitgehend immun und nicht übertragungsfähig. Selbst das einfach erscheinende Problem, ob denn die Mund-Nasen-Maske überhaupt schütze oder gar virusverbreitend sei, lässt sich mit Hausverstand offensichtlich besser lösen als mit wissenschaftlichen Methoden. Die politischen Entscheidungsträger sind beim breiten Spektrum dieser Forschungsergebnisse wahrlich nicht zu beneiden.

„Im elfenbeinernen Turm grassieren aber auch menschliche Schwächen wie Missgunst, Kränkung oder Narzissmus.

Die medizinischen Wissenschaften werden heute auf sehr hohem Niveau betrieben und haben große Erfolge gebracht, auch in der Virusbekämpfung. So gilt Hepatitis C, vor 20 Jahren noch nahezu ein Todesurteil, jetzt zu fast 100 % als heilbar. Heute wird durch eine HIV-Infektion – ehemals absolut tödlich – die Lebenserwartung kaum mehr verkürzt. Wir haben allen Grund, den Wissenschaften zu vertrauen und dürfen zuversichtlich auf wirksame Coronamedikamente und sichere Impfstoffe hoffen.

Die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten lassen sich nicht durch Versagen der Wissenschaft, sondern eher durch das Menscheln der Wissenschaftler erklären. Diese stehen unter enormem Druck, sind beinhartem Konkurrenzkampf und permanentem Publikationszwang ausgesetzt. Im elfenbeinernen Turm grassieren aber auch menschliche Schwächen wie Missgunst, Kränkung oder Narzissmus. Wahrscheinlich sogar mehr als in der Welt draußen. Wenn dann die Gesellschaft Ergebnisse auf Teufel komm raus erwartet und die Forscher zu neuen Stars emporjubelt, fällt es nicht leicht, zugeben zu müssen, dass ein Virus ein Stück weit unkalkulierbar ist.

Vielleicht würde es Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit der Wissenschaftler mehr fördern, wenn sie Presseerklärungen nicht mit der Ankündigung neuester Forschungserkenntnisse einleiten, sondern mit dem Wort eines der größten Denker der Menschheit, des Philosophen Sokrates : „Ich weiß, dass ich (noch) nicht weiß.“

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut

und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.