Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Erinnerungen

Vorarlberg / 20.07.2020 • 09:30 Uhr

Wir alle vergessen gelegentlich etwas. Aber Vergesslichkeit ist eine Eigenschaft, die besonders gern unsere Politiker und Politikerinnen befällt. Ich meine da nicht so sehr die an hochgradige Amnesie, also Gedächtnisverlust, gemahnenden Erinnerungslücken des Kanzlers und des Finanzministers im Ibiza-Untersuchungsausschuss. Oder nicht erfüllte Wahlversprechen nach einer Wahl. Ich meine die ausbleibende Erinnerung an die eigene Politik. Etwa den Misstrauensantrag der Opposition gegen Verteidigungsministerin Tanner. Nicht, dass ich die höchst ungeschickt und widersprüchlich agierende Ministerin in Schutz nehmen möchte. Aber wenn SPÖ und FPÖ deren Rücktritt verlangen, weil sie die seit Jahrzehnten bekannten Mängel im Heer nicht beseitige, dann werfen sie ihr etwas vor, was sie selbst lange versäumt haben. Die vier Vorgänger Tanners stammten allesamt aus SPÖ und FPÖ (Darabos, Klug, Doskozil, Kunasek) und haben genau das nicht getan: Das Bundesheer so auszustatten, dass es seinen Verfassungsauftrag erfüllt. Einzig Interimsminister Starlinger hat die Mängel schonungslos aufgezeigt. Oder, wenn Kanzler Kurz die „verfehlte Integrationspolitik“ für die Ausschreitungen in Wien-Favoriten verantwortlich macht. Wer war denn fast zehn Jahre lang für die Integration verantwortlich? Vor allem Integrationsminister Kurz.

Seine Meinung ändern?

Man kann selbstverständlich in einem Politikerleben seine Meinung ändern. Aber mit Grund. Wie Angela Merkel. Sie hat 2015 ihr Land für die Flüchtlingswelle geöffnet, oder besser, wie der frühere EU-Kommissionspräsident Juncker im neuen „profil“ sagt, die Grenzen nicht geschlossen, was ein wesentlicher Unterschied ist. Und Österreich damit gewaltige Probleme erspart. Sie hat dann aber, um eine Überforderung der Bevölkerung zu verhindern, eine zunehmend restriktivere Politik vertreten. Merkel hat sich früher auch strikt geweigert, dass die EU zur Unterstützung einiger Mitgliedsländer Schulden aufnimmt. Unter dem Eindruck von Corona hat sie ihre Haltung geändert und will mit einem 500 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds die wirtschaftlichen Folgen von Corona abfedern. Nicht nur in ihrem Land, sondern in ganz Europa.

„Drei Millionen italienische Touristen pro Jahr in Österreich sind ja auch nicht gerade nichts für die heimische Wirtschaft.“

Nun kann man dagegen Einwände haben wie die „sparsamen Vier“, also auch Österreich. Es ist auch legitim, wenn Kurz im Interesse der heimischen Steuerzahler höhere Rabatte auf die Mitgliedsbeiträge verlangt. Man kann darüber debattieren, ob die Corona-Hilfen niedriger ausfallen, und dass sie an Auflagen an die Empfänger gebunden sind. Aber wenn man sich zu Europa bekennt, in einer Zeit, in der Europa zwischen den Machtblöcken China und USA zerrieben zu werden droht, dann muss man im Ernstfall auch europäisch denken und kompromissbereit sein. Abgesehen davon, dass auch Österreich in hohem Maß daran interessiert sein muss, wenn sich die wirtschaftliche Lage etwa in seinem zweitwichtigsten EU-Exportmarkt Italien verbessert. Drei Millionen italienische Touristen pro Jahr in Österreich sind ja auch nicht gerade nichts für die heimische Wirtschaft.

Zur Erinnerung gehört auch jene an die eigene Geschichte. Wie ist denn unser Land nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine gekommen? Vor allem auch durch den Marshallplan der USA, der nicht nur aus Krediten bestanden hat, sondern auch aus direkten Hilfslieferungen von 1948 – 1952 an das darniederliegende Europa. Den meisten Staaten ist es danach besser gegangen als vor dem Krieg. Auch daran darf man sich aktuell erinnern.

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.