Sündenbock Länder
Schwierigkeiten bei der Lösung von Problemen dadurch abwenden zu wollen, dass die Verantwortung auf einen Sündenbock abgeladen wird, ist ein uraltes Ritual, auf das auch in der Politik gerne zurückgegriffen wird. In Österreich sind je nach Thema die EU oder die föderalistische Gliederung mit eigenständiger Landespolitik die bevorzugten Sündenböcke. Wenn beispielsweise die hohen Ausgaben für die Staatsverwaltung kritisiert werden, ist eine mit Ländern, Bezirken und Gemeinden aufgeblähte Struktur der Sündenbock. Bei der Gegenfrage, warum denn in den wesentlich stärker föderal gegliederten Nachbarländern Deutschland und Schweiz die Verwaltungskosten deutlich niedriger sind als bei uns, herrscht dann allerdings bald Funkstille.
Aktuelles Beispiel ist die Bekämpfung der Covid-Pandemie, deren Mängel gerne den Ländern umgehängt werden. Es ist natürlich richtig, dass die Koordination unterschiedlicher Entscheidungsträger Zeit braucht und die Länder dabei offenkundig unterschiedliche Interessen kultivieren. Und richtig ist auch, dass Tirol nun bereits zum zweiten Mal kein gutes Beispiel effizienter regionaler Problembewältigung bietet. Das liegt vermutlich nicht so sehr an der Landespolitik, sondern an der bis in die Bundespolitik reichenden Interventions- und Spendenmacht mancher Tourismus- und Seilbahnfunktionäre. Der legendäre Götz von Berlichingen war zwar kein Tiroler, aber so ähnlich („Sag’s ihm, er kann mich im A… lecken!“) hat es Richtung Wien geklungen.
„Den Zentralstellen steht die Rolle des Oberlehrers schlecht an.“
Dabei wird übersehen, dass die Bewältigung der Pandemie in erster Linie durch Gesetze und Verordnungen des Bundes zu regeln ist. Landesbehörden sind lediglich in bestimmten Fällen für die Anwendung dieser Vorschriften zuständig – dies allerdings mit einer Weisungsbefugnis des Bundes. In der Praxis liegt das Problem allfälliger Vollzugsdefizite in Ländern daher darin, dass die Bundesstellen um diese Möglichkeit einen weiten Bogen machen, weil sie eine Auseinandersetzung scheuen. Abgesehen davon steht den Zentralstellen die Rolle des Oberlehrers schlecht an. So berauschend waren manche Aktionen (z.B. Corona-Ampel, Kaufhaus Österreich, Corona-App für Smartphones) auch wieder nicht und vor einer zentralen Steuerung der Testaktionen vor Ort müsste man sich geradezu fürchten. Und den Versand der älteren Menschen versprochenen FFP2-Masken, die nach Wochen immer noch nicht überall angekommen sind, hätten die Länder vermutlich zügiger erledigt.
In seinem Drama „Ein Bruderzwist im Hause Habsburg“ hat Franz Grillparzer bereits 1848 eine sehr vorausschauende Diagnose der österreichischen Politik erstellt: „Auf halben Wegen und zu halber Tat mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.“
Jürgen Weiss vertrat das Land als Mitglied des Bundesrates zwanzig Jahre lang in Wien und gehörte von 1991 bis 1994 der Bundesregierung an.
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