Historische Biografie von Meinrad Pichler: Die Gutsherrin

Historische Biografie: Kreszentia Griß-Bucher (1825–1913).
Maria Anna Katharina Kreszentia Griß, genannt Kreszenz, stammte aus bestem Feldkircher Haus. Ihr Vater Andreas Griß gehörte als wohlbestallter Kaufmann zum kleinstädtischen Patriziat. Wohnung und Geschäft der Familie befanden sich an der Stirnseite der Marktgasse, im heutigen Gasthof Lingg. Wie andere städtische Herren widmete sich Griß bereits seit den 1840er Jahren auch der Landwirtschaft. Als Geldverleiher war er – oft durch Exekutionen – in den Besitz von Wiesen und Äckern in Tisis, Nofels und Tosters gelangt, hatte in Tisis einen Gutshof errichtet und in der Stadt beim Saumarkt einen weiteren Stall erworben. Dieser umfangreiche landwirtschaftliche Besitz ging nach seinem Tod im Jahr 1870 an seine Tochter Kreszenz über. Ihre jüngere Schwester Anna erhielt Kapitalien und Realitäten in vergleichbarem Wert. Die beiden jungen Damen waren in der Obhut des Vaters aufgewachsen und in ausländischen Instituten erzogen worden, nachdem die Mutter Kreszentia Lerch bereits 1835 verstorben war. Die beiden Töchter waren zu diesem Zeitpunkt zehn beziehungsweise acht Jahre alt.
Es war keineswegs vorgegeben, dass Kreszenz Griß dereinst eine gutsherrliche Viehzüchterin werden würde. Im Jahr 1851 absolvierte sie nämlich in Paris erfolgreich einen Kurs, der sie befähigte, ein Mädchenpensionat zu führen. Ihre Tochter Ida, die eine Ausbildung zur Klavierlehrerin erhielt, erzählte später ihren Schülerinnen, die Mutter sei damals mit dem eigenen Pferd von Feldkirch nach Paris geritten. Mit der Schilderung dieses Abenteuers wollte sie erzählerisch darauf verweisen, dass Kreszenz Griß eine unternehmungslustige und vor allem mutige Frau war. Von ihrer Unerschrockenheit werden wir noch weitere Kostproben erhalten.
Über eine Tante lernte Kreszenz Griß den Ende der 1840er Jahre aus Wien zurückgekehrten Maler Josef Bucher (1820-1883) kennen. Diese hatte dem jungen Künstler mit einem Altarbild einen recht lukrativen ersten Auftrag verschafft. Bucher stammte aus ärmlichsten Verhältnissen und hatte mit Unterstützung eines aus Feldkirch stammenden Wiener Kaufmanns an der Wiener Akademie studiert. Noch aber gingen die Kaufmannstocher und der Maler getrennte Wege zur Welterfahrung. Sie nach Paris, er nach Frankfurt. Nach der Rückkehr der beiden wurde 1855 geheiratet. Die Hochzeitsreise führte das junge Paar nach Venedig und Rom. Hier in der ewigen Stadt erfuhr Bucher einen heftigen Schub seiner schon länger drohenden psychischen Erkrankung. Nach Feldkirch heimgekehrt, besserte sich sein Zustand zusehends.

Im Hinterhof des Griß‘schen Hauses richtete sich Bucher ein Atelier ein. Zwischen 1857 und 1863 brachte Kreszenz Bucher drei Mädchen zur Welt und engagierte sich zunehmend auf dem Gutshof ihres Vaters. Mit Hingabe und Erfolg widmete sie sich vor allem der Viehzucht. Es fand in den 1860er und 1870er Jahren kaum eine Viehschau statt, an der ihre aufgeführten Kühe oder Kälber nicht prämiert wurden. Sie war damit die erste Frau in Vorarlberg, die nicht nur ein Gut besaß, sondern auch namentlich als die Gutsherrin auftrat.
1859 erwarb Frau Bucher ein Anwesen in Viktorsberg, weil sie hoffte, dass die gute Luft, der freie Blick und die Ruhe dem Gemüt und der Schaffenskraft ihres Gatten dienlich sein könnten. Mit großer Umsicht planten die beiden ein neues Wohn- und Wirtschaftsgebäude, in welches 1864 übersiedelt werden konnte. Wie die meisten Gutsherren jener Zeit erwarb Frau Bucher auch eine Alpe, die mit einer modernen Sennerei ausgestattet wurde. Wie groß die Begehrlichkeit wohlhabender städtischer Bürger nach landwirtschaftlichen Gütern, und im besonderen nach großen Alpen, die womöglich eine Eigenjagd beinhalteten, geworden war, zeigt sich an der Preissteigerung des Bucherschen Objekts. Frau Bucher hatte die Alpe Schneewald mit gut 140 Hektar Weide und Wald am Fuße der Hohen Kugel 1862 um 10.000 Gulden gekauft. Fünfzehn Jahre später bot und bezahlte die Gemeinde Fraxern für dieselbe 22.000 Gulden.
Der Verkauf dieser Alpe und schließlich weiterer Realitäten in Feldkirch war notwendig geworden, weil der Künstler wenig verdiente und die Landwirtschaft für einen herrschaftlichen Haushalt nicht genügend abwarf. Zudem ließ Frau Bucher ihren Töchtern Ausbildungen in ausländischen Instituten zukommen. Die bedeutendsten Ausgaben aber verursachten die Aufenthalte von Josef Bucher in schweizerischen Heilanstalten. Mit zunehmendem Alter wurde sein psychischer Zustand immer labiler. Schließlich konnte sich die Familie nur noch die Landesirrenanstalt Valduna leisten, die man anfänglich um jeden Preis aus medizinischen und Prestigegründen umgehen wollte. Als Josef Bucher 1883 in Viktorsberg durch den Tod von seinen Dämonen erlöst wurde, war ein großer Teil des ehemaligen Vermögens aufgebraucht. Nur noch das ansehnliche Anwesen über dem Rheintal konnte Kreszenz Bucher ihr Eigen nennen.
Bald nach der Krankheit und dem Tod ihres Mannes kam neues Ungemach auf Frau Bucher zu. Josef Bucher war ein gottesfürchtiger und arrivierter Mann gewesen und deshalb hatte die Familie einen recht geachteten Status beim Ortspfarrer, der in unmittelbarer Nachbarschaft wohnte und ordinierte, aber innerhalb des Klerus nicht unumstritten war. Bald schon begann er an der Witwe dies und jenes auszusetzen und sie schließlich öffentlich an den Pranger zu stellen. Dies geschah in einem umfangreichen Artikel im Vorarlberger Volksblatt, den Pfarrer Josef Heinrich mit „Licht- und Schattenseiten in Viktorsberg“ betitelte. Darin warf er seiner Nachbarin vor, dass ihr Verwalter ohne kirchliche Erlaubnis am Sonntag Heu eingebracht habe, dass sie als einzige in Viktorsberg die liberale Feldkircher Zeitung halte und sich insgesamt gegenüber der pfarrherrlichen Autorität unbotmäßig zeige. Damit war der schwelende Konflikt zwischen dem Pfarrer und Frau Bucher zum offenen Zeitungskrieg eskaliert. Nachdem sie vom Pfarrer den „schattenwerfenden Persönlichkeiten beigezählt“ worden sei, ging sie nun dazu über, den Angriff des Pfarrers, der sich selbst „in helles Licht“ gestellt habe, öffentlich zu parieren. „Herr Pfarrer Heinrich“, eröffnete sie ihre Attacke in der Feldkircher Zeitung, „dessen Denken sich längst von den lästigen Gesetzen der Logik befreit zu haben scheint“, verdrehe die Tatsachen und verleugne die Vorwürfe, die gegen den Seelsorger wegen seiner laufenden Abwesenheiten erhoben würden. Festivitäten in den Talgemeinden seien ihm wichtiger als der Beistand für Sterbende in seiner Bergpfarre. Er sei ein auf „dem Isolierstuhl stehender Politiker“. Der Pfarrer, den ein geistlicher Mitbruder als „feurigen Charakter“ beschrieb, ging nun zum Frontalangriff auf Frau Bucher über und widmete ihr, ohne wirklich neue Argumente, eine neuerliche Brandrede. „Seine Freunde hofften immer“, hieß es in seinem Nachruf, „dass ihn sein feuriges Temperament nicht über die Schranken der christlichen Klugheit und Mäßigung hinaustrage“. In der Auseinandersetzung mit der Frau, die es gewagt hatte, an seiner pastoralen Tätigkeit Kritik zu üben, war sein „Temperament“ tatsächlich mit ihm durchgegangen. Die heftige Auseinandersetzung im einst friedlichen Bergdorf endete erst mit der Versetzung von Pfarrer Heinrich nach Langen bei Bregenz.

In der Folge erlebte Kreszenz Bucher noch etliche ruhige Jahre auf ihrem prächtigen Ansitz. 1903 dementierte sie Gerüchte, sie wolle ihr Gut an einen französischen Orden verkaufen. Erst 1910, als alle Töchter aus dem Haus waren, veräußerte sie schließlich ihr Anwesen, das sich nach einigen Besitzerwechseln heute im Eigentum des Landes Vorarlberg befindet. Sie selbst verbrachte die Zeit bis zu ihrem Tod am 19. April 1913 im Rankweiler Herz-Jesu-Heim. Diese von den Liechtensteiner Schwestern vom Orden des „Kostbaren Blutes“ gegründete Einrichtung war eines der ersten Altersheime, das als eine Art Pension und nicht als Armenhaus geführt wurde. Aus unerklärlichen Gründen ließ sich Kreszenz Bucher nicht im Griß’schen Familiengrab in Feldkirch, wo ihr Gatte begraben lag, bestatten, sondern in Rankweil.
Als gebildete und materiell gut ausgestattete Bürgerstochter war Kreszenz Griß-Bucher zu einer selbstbewussten und kompetenten Gutsherrin mit spitzer Feder herangereift, die in ihrem langen Leben schwere Bewährungsproben zu meistern hatte; ein nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg als Landwirtin war ihr nicht beschieden, weil die Sorge um ihren kranken Ehemann viele Kräfte und Mittel band. Dass sich die Krankheit ihres Mannes auch auf einen Nachkommen vererbte, musste sie nicht mehr erleben. Einer ihrer Enkel starb 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Hall.