Frau Schmetterling

Vorarlberg / 15.07.2022 • 17:34 Uhr / 4 Minuten Lesezeit
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Ein riesiger zerknüllter Briefbogen aus japanischem Pergamentpapier stellt das Bühnenbild der heurigen Seeaufführung bei den Bregenzer Festspielen dar. Er soll die Leidensgeschichte einer jungen Frau spiegeln. Gegeben wird „Madame Butterfly“ von Giacomo Puccini, eine Oper über Liebe und Verrat, Hoffnung und Enttäuschung, Lebensfreude und Tod.

Cho-Cho-San, genannt Butterfly (d.h. Schmetterling), schwelgt im Glück, als sie der amerikanische Marineleutnant Pinkerton zur Frau nimmt. Ihm zuliebe tritt sie zum Christentum über. Doch das Kriegsschiff des Soldaten bringt ihn zurück in seine Heimat. Welten und Werte prallen aufeinander. Während sich Pinkerton frei fühlt und eine Amerikanerin heiratet, wartet Butterfly voll Liebe, Hoffnung und Sehnsucht drei Jahre lang auf die Rückkehr ihres Mannes – zusammen mit dem gemeinsamen Kind. Als Pinkerton mit seiner amerikanischen Frau wieder auftaucht und beabsichtigt, das Kind mitzunehmen, übergibt sie es ihm und nimmt sich das Leben. Puccinis Oper basiert auf einer Kurzgeschichte von John Luther Long. Anfang 1904 fand die Premiere an der Mailänder Scala statt und war ein Flop. Das Publikum lachte, zischte und pfiff – und am Ende gab es eisiges Schweigen. Puccini war tief erschüttert. Er überarbeitete die Erstfassung. Die wurde dann vom Publikum und der Kritik begeistert aufgenommen und eroberte rasch alle Bühnen der Welt.

Überheblichkeit und Selbstaufgabe

Das Stück spielt im letzten Drittel des 19. Jahrhundert. Japan machte gerade eine ungeheure Wandlung durch. Fast dreihundert Jahre lang war es dem Westen gegenüber völlig verschlossen gewesen. 1867 erzwangen die Amerikaner und die Russen mit einer Kriegsdrohung die Öffnung Japans – natürlich aus eigennützigen Motiven. Sie suchten Handelsmärkte und Handelsbeziehungen. Es war eine Öffnung unter Zwang in wenigen Jahren. Zwei Welten prallten aufeinander, Amerika mit seiner Überheblichkeit und die über tausendjährige japanische Kultur. „Madame Butterfly“ ist eine in hohem Maße sozialkritische Oper. Puccini übt harsche Kritik an der Arroganz Amerikas – in der Gestalt des Pinkerton – er übt aber auch Kritik an der japanischen Selbstaufgabe, der Aufgabe der eigenen Identität. Eine hundertjährige Aufführungspraxis hat aus einer „japanischen Tragödie“ die „Tragödie einer Japanerin“ gemacht. Damit wurde Puccinis Werk verharmlost und vereinfacht.

Nagasaki

„Madame Butterfly“ spielt in der japanischen Stadt Nagasaki. Im Jahre 1945, genau am 9. August, warf Leutnant Sweeny eine Atombombe über diese Stadt. Über 80.000 Menschen starben in wenigen Sekunden und viele Zehntausende in den folgenden Tagen, Wochen und Jahren. 1995 wurde Leutnant Sweeny in einem Interview gefragt, was im Verlauf der letzten 50 Jahre seit den damaligen Ereignissen in ihm vorgegangen sei. Der hoch dekorierte Veteran antwortete, dass jeder Soldat, in jeder Armee der Welt, dasselbe getan hätte, ganz einfach, weil es befohlen war. So hat er für sich die Schuldfrage geklärt.

Ein biblisches Gegenbeispiel: Der römische Statthalter Pontius Pilatus ist Befehlshaber über das Hinrichtungskommando, das über Jesus von Nazareth zu urteilen hat. Pilatus versucht, Jesus vor der Hinrichtung zu retten. Aber die Übermacht der Ankläger obsiegt. Nach dem Todesurteil, das er fällen muss, wäscht er sich demonstrativ die Hände in Unschuld. Seine Worte: „Wahrlich dieser ist Gottes Sohn gewesen“ kann man – unabhängig von der Historizität – als Perspektivenwechsel zugunsten des Opfers verstehen. Wer so spricht, bekennt sich schuldig am Opfer, das er exekutieren muss. Der römische Hauptmann hat in wenigen Sekunden umgedacht und umgefühlt, Leutnant Sweeny nicht einmal in fünfzig Jahren.

Wolfgang Olschbaur, evangelischer Pfarrer i. R., Schwarzach.
Wolfgang Olschbaur, evangelischer Pfarrer i. R., Schwarzach.

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