Hass im Netz: Warum der Verein Neustart Dialog statt Haftstrafe bevorzugt

Vorarlberg / 09.08.2022 • 05:00 Uhr
Der Suizid von Lisa-Maria Kellermayr hat die Problematik wieder an die Oberfläche gespült. <span class="copyright">APA</span>
Der Suizid von Lisa-Maria Kellermayr hat die Problematik wieder an die Oberfläche gespült. APA

Verein Neustart setzt bei Hass im Netz auf das Projekt “Dialog statt Hass”.

Bregenz „Was passiert mit den Tätern?“ Diese Frage sollte nach Ansicht von Johannes Pircher-Sanou, dem neuen Leiter des Vereins Neustart, in der wieder aufgeflammten Diskussion um Hass im Netz auch gestellt werden. Er selbst spricht sich gegen ein Wegsperren nach einer Verurteilung wegen Verhetzung aus. Eine Gefängnisstrafe würde nichts ändern. Vielmehr müssten sich die Täter der Thematik stellen, sich mit ihr auseinandersetzen. „Sie müssen verstehen, welche Auswirkungen das auf die Opfer haben kann“, sagt Pircher-Sanou und bringt das seit 2019 existierende Programm „Dialog statt Hass“ in Erinnerung. Es kann von Staatsanwälten bei einer Diversion oder Richtern bei einer Verurteilung gemeinsam mit der Bewährungshilfe angeordnet werden. In Vorarlberg übernehmen zwei speziell geschulte Sozialarbeiter des Vereins Neustart die Durchführung.

Alternativen vermitteln

Österreichweit gibt es im Schnitt rund 80 Zuweisungen pro Jahr, in Vorarlberg wurden seit Einführung des Projekts acht Klienten betreut. „Die Intervention zielt darauf ab, bei Tätern die Einsicht zu erreichen, dass Hass im Netz strafrechtliche Grenzen überschreitet und gesellschaftlich nicht toleriert wird“, erklärt Johannes Pircher-Sanou. In weiterer Folge geht es darum, alternative Meinungsäußerungen aufzuzeigen und zu vermitteln. Das Programm dauert insgesamt rund sechs Monate. Eine an der Karl-Franzens-Universität in Graz begleitend durchgeführte Diplomarbeit bescheinigt dem Vorhaben positive Akzeptanz sowie die gewünschte Wirkung. „Wir können somit ein spezialpräventiv wirksames Instrument zum Umgang mit Verhetzung zur Verfügung stellen“, fügt Pircher-Sanou an. Die noch relativ niedrigen Zuweisungszahlen lassen sich laut dem Neustart-Leiter unter anderem damit erklären, dass Staatsanwaltschaft und Gericht verschiedene individuelle Möglichkeiten haben, auf Delikte wie Beleidigungen, üble Nachrede oder Drohungen zu reagieren. Neustart wird tätig, wenn es etwa um einen Tatausgleich, um Bewährungshilfe, gemeinnützige Leistungen und das Projekt „Dialog statt Hass“ geht.

Johannes Pircher-Sanou leitet seit Juli den Verein Neustart.<span class="copyright"> Kummer</span>
Johannes Pircher-Sanou leitet seit Juli den Verein Neustart. Kummer

Bei den bisher begleiteten Fällen ging es meist um Delikte im Zusammenhang mit Verhetzung gegen Migranten bzw. um homophobe Äußerungen. „Covid war noch nicht dabei. Das Programm würde sich aber auch dafür eignen“, ergänzt Pircher-Sanou mit Hinweis auf die laufenden Diskussionen. Ebenso könnte er der Forderung der Bundes-ÖVP nach Schaffung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur Verfolgung von Hass im Netz etwas abgewinnen. „Das Thema wird uns noch stark beschäftigen.“

Berufstätig und männlich

Johannes Pircher-Sanou steht klar und deutlich hinter der Meinungsfreiheit: „Sie darf jedoch nicht missbraucht werden.“ Soziale Medien öffnen dem Hass allerdings Tür und Tor. „Der einfache Zugang sowie die Anonymität verführen dazu, Frust abzulassen“, weiß der Sozialarbeiter. Er würde sich wünschen, dass schon die Schulen verstärkt soziale Medienkompetenz vermitteln. Gleichwohl sind es nicht die Jungen, die das Netz mit Hasstiraden fluten, sondern die 40- bis 60-Jährigen. Das hat eine Auswertung ergeben. Die meisten von ihnen sind berufstätig, sozial gut eingebunden und Männer (74 Prozent). Was die Betreuer vor allem zu hören bekommen: „Es war mir nicht bewusst, was ich mit meinen diskriminierenden Aussagen anrichte.“