„Die Bilder kriege ich nie mehr aus dem Kopf“

Amir Kadiric (42) war noch ein Kind, als er im Internierungslager Trnopolje eingesperrt war.
BLUDENZ Ein Morgen im Mai 1992. Amir Kadiric macht sich, wie jeden Wochentag, auf den Weg in die Grundschule von Rizvanovici – ein kleines Dorf mit ein paar Hundert Einwohnern im Osten von Bosnien, nahe der Stadt Prijedor. Doch an diesem Tag ist alles anders. Mit Tränen in den Augen fordert die Klassenlehrerin die Schüler auf, gleich wieder nach Hause zu gehen und die Eltern zu warnen. Die BSA (Bosnisch-Serbische Armee) steht schon vor Prijedor und wird auch bald in Rizvanovici einmarschieren. Es ist Amirs letzter Schultag in seinem Heimatort. Er ist elf Jahre alt.
Keine Unterschiede
Die Familie Kadiric zählt zu den 98 Prozent der Bewohner von Rizvanovici, die Bosniaken (bosnische Muslime), sind. „Es gab aber keine Unterschiede zwischen uns Bosniaken und den Serben und den Kroaten“, betont Amir. Das ist dort so bis Anfang 1992, als der Jugoslawienkrieg, der im Juni 1991 in Slowenien begonnen und zehn Tage später in Kroatien weitergewütet hat, in Bosnien ausgebrochen ist.

Die Lehrerin hat recht. In den darauffolgenden Tagen und Wochen erobern die BSA-Truppen eine Ortschaft nach der anderen im Umland von Prijedor. In Rizvanovici marschieren Soldaten am 20. Juli 1992 ein. Alle Nichtserben, auch Frauen und Kinder, werden aus ihren Häusern vertrieben und ins Internierungslager Trnopolje verbracht. In diesem von BSA und Sonderpolizei eingerichteten Lager bei Prijedor werden von Mai bis November 1992 Tausende Nichtserben gefoltert, sexuell missbraucht, hingerichtet.
Amirs Vater ist nicht unter den Lagerinsassen: „Sie haben ihn vor unserem Haus vor meinen Augen erschossen“, erzählt Amir mit bebender Stimme. „Die Bilder kriege ich nie mehr aus dem Kopf.“

Die Gefangenschaft in Trnopolje steht der damals Elfjährige in einer Art Schockzustand durch. „Ich verstand nicht, was mit uns passiert ist“, sagt er. „Ich hatte Angst. So etwas zu erleben, wünsche ich nicht einmal meinem ärgsten Feind.“ Dabei hat er noch Glück: Er und seine damals vierjährige Schwester, seine Mutter, eine Tante und andere Bosniakinnen mit Kindern werden vier Wochen später in Lastautos verfrachtet und ins „freie Territorium“ transportiert, das auf dem etwa 150 Kilometer von Prijedor entfernten Berg Vlasic beginnt. „Von dort gingen wir zu Fuß nach Travnik hinunter.“ Die kleine Stadt in Zentralbosnien steht unter militärischer Kontrolle von Bosniaken und bosnischen Kroaten. Die Entkommenen von Trnopolje werden in einem zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Schulgebäude untergebracht. Das ist bereits überfüllt mit Geflüchteten aus anderen Orten Bosniens.


Wenige Wochen später holt ein in Slowenien lebender Verwandter Amir und seine Angehörigen ab und nimmt sie bei sich auf. Vorübergehend. Kurze Zeit später muss die Familie weiterziehen. Sie schlägt sich nach Kärnten durch und von dort nach Vorarlberg. Amirs erstes Zuhause wird das Flüchtlingsheim Tobelhaus in Raggal.
„Ich habe hier meine Familie, meine Freunde, mein Zuhause gefunden – und Frieden.“
Amir Kadiric
Inzwischen sind 31 Jahre vergangen. Amir Kadiric hat das Tischlerhandwerk erlernt, arbeitet derzeit aber als Lagerleiter und lebt mit seiner Ehefrau Mihrija und den zwei Kindern in Bludenz.

„In Vorarlberg gelandet zu sein, ist das Beste, das mir passieren konnte“, sagt Amir Kadiric heute. „Ich habe hier meine Familie, meine Freunde, mein Zuhause gefunden – und Frieden.“ Dennoch ist die Erinnerung an den Krieg, insbesondere an die Zeit in Trnopolje, unauslöschlich in seinem Gedächtnis verankert: „Ich habe auch jetzt noch, nach so vielen Jahren, Albträume.“ Seinen Kindern – der Sohn ist 15, die Tochter zwölf Jahre alt – prägt er ein, „man darf niemals einen Unterschied zwischen Menschen machen, egal welche Nationalität oder Hautfarbe jemand hat“. Die Kinder, sagt er, könnten sich nicht vorstellen, warum so Schreckliches geschehen konnte, warum es überhaupt Krieg gibt. „Sie haben mich gefragt, wie böse muss man sein, um so etwas zu tun.“
Kein Frieden
Nach Bosnien kehrt Amir Kadiric nur zurück, um Angehörige in Rizvanovici zu besuchen, nicht mehr jedoch um sich dort wieder niederzulassen. Er sieht keine Zukunftsperspektive für sein Herkunftsland. Es gibt auch keinen Frieden in Bosnien. Im Gegenteil. Es werde noch lange keinen Frieden geben, denn „von- seiten der Politik wird weiterhin Hass geschürt“.