Heidrun Lips: “Möchte lieber sterben als noch mal diesen steinigen Weg gehen”

Nach einer lebensrettenden Aneurysma-OP brachte Heidrun Lips kein Wort mehr heraus. Die Sprache kam wieder, nicht zuletzt auch durch das Singen beim Aphasiker-Chor Ostschweiz.
St. Gallen/Dornbirn Im Sommer 2011 änderte sich Heidrun Lips‘ (heute 65) Leben radikal. Damals war die St. Gallnerin noch mit Leib und Seele Altenpflegerin. Die unheilbringenden Veränderungen kündigten sich mit starken Kopfschmerzen an und mit Sprachstörungen. „Meine Tochter sagte zu mir: ,Mutti, du redest so seltsam.‘“ Eine ärztliche Untersuchung brachte Niederschmetterndes zutage. „Man entdeckte ein Aneurysma in meinem Kopf. Aus ihm sickerte tröpfchenweise Blut ins Gehirn.“
Nach der lebensrettenden Operation konnte Heidrun nicht mehr sprechen und nicht mehr lesen. Auch ihre rechte Hand war beeinträchtigt. „Sie war nicht mehr zu gebrauchen.“ Alles zusammen stürzte sie in eine Krise. „Es war schlimm, nicht mehr reden und lesen zu können.“

Heute, zwölf Jahre später, schaut für sie die Welt wieder rosiger aus. Die Rentnerin aus der Schweiz kann wieder fließend sprechen und ihre geliebten Rudolf-Steiner-Bücher lesen. Die Worte und das Verstehen kamen nach und nach zurück – dank Therapien, fleißigem Üben und dem Beitritt zum Aphasiker-Chor Ostschweiz.
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Bei Aphasie handelt es sich um eine schwerwiegende Sprachstörung, deren Ursache in einer Beschädigung der Gehirnregionen liegt, welche die Sprache steuern. Häufigster Grund für eine Aphasie ist der Schlaganfall, aber auch Schädel-Hirn-Traumata, Hirntumore oder Entzündungen im Gehirn können eine solche auslösen. Betroffenen fällt es schwer, Wörter und Laute zu bilden, zu lesen, zu verstehen oder Gesagtes zu wiederholen.
„Durch das Singen im Chor machte ich große Fortschritte. Meine Sprache verbesserte sich dadurch deutlich“, berichtet Lips. Sie hat schon immer gern gesungen. „Als junge Frau habe ich bei verschiedenen Chören mitgewirkt.“
Melodien bauen Brücken zu Worten
Karin Anderegg Franchi (42), die den Aphasie-Chor Ostschweiz im Jahr 2010 gegründet hat und ihn seither leitet, weiß, warum es durch das Singen zu Verbesserungen kommen kann: „Beim Singen werden beide Hirnhälften angeregt. Wenn ein Aphasiker singt, unterstützt die gesunde Hirnhälfte die geschädigte. Mit Hilfe von Musik, Rhythmus und Melodien gelingt es, die Wörter einfacher zu finden. Melodien bauen Brücken zu Worten.“
Nicht alle ihrer 20 Schützlinge, die unter Aphasie leiden, können die Liedtexte singen. „Manche singen nur lala. Aber zusammen kommt was Schönes raus“, berichtet Anderegg Franchi, die selbst sehr musikalisch ist und den Chor am Klavier begleitet.

Heute wird der Aphasiker-Chor Ostschweiz beim 21. Usability Day (uDay) an der Fachhochschule Vorarlberg (siehe unten) zweimal auftreten – die Tagung steht im Zeichen der chronischen Krankheiten und stellt den Schlaganfall ins Zentrum. Anderegg Franchi, die im Brotberuf als Logopädin an einer Schule arbeitet, möchte mit der Singgruppe noch viele Proben und Auftritte erleben. Denn: „Es ist immer wieder schön zu sehen, wie der Chor den Sängern und Sängerinnen Selbstvertrauen und Zuversicht gibt. Außerdem gibt mir die Freude, die beim Singen im Raum herumschwirrt, viel.“
“Mir gibt die Freude, die beim Singen im Raum herumschwirrt, viel.”
Karin Anderegg Franchi,Chorleiterin
Auch Lips, die seit mehr als zehn Jahren mit Enthusiasmus dabei ist, möchte noch lange dem Aphasiker-Chor angehören. Die Freude am Singen ist das eine, das gesellige Beisammensein das andere. „Wir sind wie eine große Familie. Als Aphasiker sitzen wir alle im selben Boot. Das schweißt zusammen.“
Die 65-Jährige schaffte es, sich mit aller Kraft ins Leben zurückzukämpfen. Diesen steinigen Weg möchte sie kein zweites Mal gehen müssen. „Da sterbe ich lieber.“ Ihre Worte sind nicht nur so dahingesagt. Sie haben einen ernsten Hintergrund. „Bei mir wurde ein zweites Aneurysma im Kopf entdeckt. Ich habe mich dagegen entschieden, es prophylaktisch operieren zu lassen. Denn das, was ich mitgemacht habe, möchte ich nicht noch einmal erleben müssen. Vor allem möchte ich nicht mehr sprechen lernen müssen.“ Dass die erweiterte Arterie in ihrem Kopf jederzeit platzen kann, hängt wie ein Damoklesschwert über ihrem Leben. Aber dank ihres Gottvertrauens kann sie gut damit leben. „Ich habe Gott gebeten, mich so lange leben zu lassen, solange ich noch etwas zu tun habe auf Erden.“ Die Rentnerin glaubt, dass ihre Mission hier noch nicht beendet ist. Denn: „Bald kommt mein drittes Enkelkind zur Welt.“
Tagung zum Thema Schlaganfall an der Fachhochschule
An der Fachhochschule (FH) Dornbirn findet heute der 21. Usability Day statt, eine Tagung, in deren Zentrum der Schlaganfall steht. In Österreich ist der Schlaganfall nach Herzkreislauf-Erkrankungen und Krebs die dritthäufigste Todesursache und die Hauptursache für bleibende Behinderungen. Jährlich erleiden rund 25.000 Menschen in Österreich einen Schlaganfall. Zu der Tagung an der FH kommen heute alle relevanten Akteure aus dem Land zusammen und blicken gemeinsam in die Zukunft der digitalen Transformation in der Schlaganfalltherapie, Rehabilitation und Pflege. Auch Schlaganfallopfer Othmar Walser, der sich erfolgreich ins Leben zurückkämpfte, wohnt der Tagung bei. Er leitet in Vorarlberg die Selbsthilfegruppe Aphasie (selbsthilfe-vorarlberg.at). Die Aphasie-Chöre aus der Schweiz haben ihn inspiriert. „Einen solchen Chor möchte ich in naher Zukunft auch in Vorarlberg aufbauen“, kündigt der engagierte Mann an.