Mit Schmugglern über alle Berge

Vorarlberg / 10.08.2023 • 17:15 Uhr
Mit Schmugglern über alle Berge
Dieses Foto, aufgenommen am Grat des St. Antönierjoch ,stammt aus dem privaten Archiv von Friedrich Juen. Juen

Unterwegs zu schaurigen Plätzen in Vorarlberg: Über unwegsames Gelände wurde einst zwischen Gargellen und dem Schweizer Prättigau geschmuggelt.

Von Marion Hämmerle-Crone

St. Gallenkirch Angekommen in Gargellen, geizt das höchstgelegene Bergdorf Montafons mit seinen Reizen. Die imposanten Gipfel des Rätikons sind wolkenverhangen. Das Thermometer morgens um acht Uhr zeigt sieben Grad Celsius, doch die nasse Frische fühlt sich kühler an. Die Stimmung ist geradezu mystisch. “Genau das richtige Wetter zum Schmuggeln”, begrüßt uns Friedrich Juen und schlägt vor, im geschichtsträchtigen Hotel Madrisa einen Kaffee zu trinken.

Mit Schmugglern über alle Berge
Friedrich Juen in der Bibliothek des geschichtsträchtigen Hotel Madrisa in Gargellen. CRO

Passender könnte der Nachfahre einer Schmuggler-Dynastie den Schauplatz gar nicht wählen, denn wir blicken direkt auf die Talstation der Schafbergbahn. Wer in die Gondeln der Luftseilbahn steigt, erreicht in wenigen Minuten eine Höhe von 2126 Meter und den Ausgangspunkt der Rundwanderung auf historischen Schmugglerpfaden. Das ist Friedrich Juens Welt. Hier hinein wurde er geboren, als Enkel und Großneffe der Brüder Meinrad und Wilhelm Juen mit dem Auftrag, ihre Geschichten um die Schmugglerei weiterzuerzählen.

Mit Schmugglern über alle Berge
Der legendäre Meinrad Juen ist der Groß­onkel von Friedrich Juen. Juen

“Vor allem der gewiefte Meinrad galt als Held und ist bis heute eine Legende im Montafon”, erzählt der 55-Jährige und als der Kaffee – ein Verlängerter und ein Cappuccino – serviert wird, sind wir schon mittendrin in einer Bergwelt, die durch ihre kargen und schroffen Kalkfelsen einer Mondlandschaft gleicht. Am schmalen Grat des St. Antönier Joches auf rund 2552 Meter Höhe verläuft die 53 Kilometer lange Grenzlinie zwischen Österreich und der Schweiz. Doch was heute abenteuerlich anmutet und als Touristenattraktion ausgesprochen beliebt ist, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebensgefährlich. “Wenn ich mir vorstelle, nachts, kaum die Hand vor Augen erkennend, mit bis zu 30 Kilo schwerem Rucksack auf unwegsamen Pfaden unterwegs zu sein, läuft es mir kalt über den Rücken”, sagt der St. Gallenkirchner, der die Bergwelt des Rätikons wie seine eigene Westentasche kennt.

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Richard Wagner und ein unbekannter Zöllner auf dem Grat des Rätikongebirges Juen

Als Flachländer aus dem Rheintal fällt die Vorstellung besonders schwer. Nicht zu denken an eine Wanderung über den Pass, auch nicht als reines Freizeitvergnügen. Per se wegen der Kondition, nicht wegen des Schmuggelns. Das gehörte zu meiner Kindheit in der Grenzregion Schweiz-Deutschland zum Leben wie der Spielplatz, das Strandbad und die Pommes mit Hot-Ketchup am Kiosk.

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Meinrad Juen konnte mit seiner Schläue alles beschaffen, was in Österreich kaum zu bekommen oder in der Schweiz deutlich billiger war. „Von Unterhosen und Stoffballen über Ferngläser, ich glaub‘ sogar bis hin zu Waffen, hat man alles Mögliche bei ihm bekommen”, erzählt der Nachfahre, der bei der Bergbahn arbeitet und eigentlich gelernter Tischler ist. „Er war natürlich ein ganz außergewöhnlicher Mensch, schwierig einzuschätzen, denn er hat eigentlich immer das gemacht, was man nicht von ihm vermutete.”

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NS-Überlebende Inge Ginsberg zu Besuch im Montafon Mai 2018

1938 begann er Flüchtlinge über die Bergpässe in die Schweiz zu „schleppen“. Auch der Jüdin Inge Ginsberg, die gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrem Verlobten flüchten musste, verhalf er in die Schweiz. Mit 96 Jahren kehrte die “Überlebungskünstlerin”, wie sie sich selbst nennt, noch einmal nach St. Gallenkirch zurück. Das war 2018. “Es war in der Nacht am 22. Oktober 1942, als mein Opa und mein Großonkel mit der Familie in der Dunkelheit aufbrachen”, erzählte sie dem Enkel und Großneffen. Die Flucht verlief sehr dramatisch: Eine ganze Nacht und einen Tag seien sie regungslos hinter einem Gebüsch geblieben. Sie mussten so lange warten, bis jene Grenzsoldaten wieder da waren, die der Meinrad zuvor bestochen hatte. “Inge erzählte auch von einem Mann, der ihnen auf der schweizerischen Seite den Weg zeigte und dann in St. Antönien den Bus bezahlte. Wie sie in Chur ausgestiegen seien, habe er, der Grenzpolizist, sie verhaftet. Das sei ihr Glück gewesen, denn oben hätte er sie zurückschicken müssen.”

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Die Zöllner der damaligen Zeit. JUEN

„Ich habe ein herrliches Leben gehabt, wofür ich dem Meinrad fast täglich danke, dass er uns das ermöglicht hat.“ So hat Inge Ginsberg ein Leben lang geschwärmt und mit ernster Stimme hinzugefügt: Ein Held sei er gewesen, dass er uns gerettet hat, dass er mich persönlich geschleppt und meinen Rucksack getragen hat. Er sei unglaublich liebevoll gewesen, ein gütiger Mensch.

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Die Aufnahme zeigt Josef Böhler auf dem Schlappiner Joch, im Hintergrund die Madrisa. Juen

Meinrad und Wilhelm haben während des Zweiten Weltkrieges vielen Menschen die Flucht ermöglicht. Noch im selben Jahr wurde Meinrad Juen verhaftet, doch es gelang ihm zu entkommen. Bis kurz vor Kriegsende 1945 versteckte er sich bei Verwandten und Freunden. Dennoch verhalf er mehr als 40 Flüchtlingen über die grüne Grenze in die Schweiz. “Ich bin stolz auf meinen Großonkel, weil er sich das getraut hat”, sagt Friedrich Juen, der heute als Kulturführer Interessierte an die Pässe führt. Oder die Schauspielgruppe Teatro Caprile bei ihrer interaktiven Theaterwanderung „Auf der Flucht“ begleitet, an der heuer von 14. Juli bis 3. September teilgenommen werden kann.

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Tourentipp Schmugglerweg

Rundwanderung vom Bergrestaurant Schafberg Hüsli (2130 m) über das St. Antönier Joch (2379 m) – vorbei am Gafiersee (2290 m) auf das Gafierjoch (2415 m) und wieder zurück zum Bergrestaurant.

Start Bergrestaurant Schafberg Hüsli, Gargellen

Gehzeit 4,5 Stunden

Kilometer 8,5 km

Schwierigkeitsgrad anspruchsvoll bis schwer (entlang des Grates sind Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich)

Höhenmeter 670 Meter

Parkmöglichkeiten Talstation der Schafbergbahn, Gargellen (kostenpflichtig), Parkplatz gegenüber Haus Tilisuna

Öffentliche Verkehrsmittel Linie 670 ab Bahnhof Schruns verkehrt im Halbstunden-Takt

Einkehren Bergrestaurant Schafberg