Reinhold Bilgeri

Kommentar

Reinhold Bilgeri

Der Bruch

Vorarlberg / 19.10.2023 • 06:30 Uhr

Ich saß mit Frau Ammann auf der Sonnentreppe zum Emsbach, die Steine noch warm von der Nachmittagssonne, die vergessen hat, dass schon Oktober ist. Irgendwie schämen wir uns fast ein bisschen, weil wir das Glück haben in einem ruhigen Teil der Welt leben zu dürfen – während keine 1000 Kilometer entfernt ein Angriffs-Krieg tobt und in Israel die Welt untergeht. Vielleicht haben uns die langen friedlichen Jahrzehnte im Nachkriegseuropa naiv gemacht. Heute wissen wir – diese Glückssträhne war keine Selbstverständlichkeit, sondern ein dem Zivilisationsbruch des Zweiten Weltkriegs geschuldetes Ringen um die kostbaren Werte der Demokratie unter dem Kanon der Menschenrechte. Beides ist heute wieder in Gefahr, wie schon lange nicht mehr. Auch bei uns gibt es wieder ein vertrotteltes Hinschielen auf autokratische Führer. Als hätte man nichts gelernt aus den Folgen des Faschismus.

„Auch bei uns gibt es wieder ein vertrotteltes Hinschielen auf autokratische Führer.“

Beide Katastrophen, sowohl die in der Ukraine wie auch die in Israel, wurden von brutalen Diktaturen in Gang gesetzt. Die eine mit dem Segen der russisch orthodoxen Kirche, die andere im Namen Allahs. Was „alte Rechte“ anbelangt – in Palästina und im heutigen Staatsgebiet Israels leben schon seit über 3000 Jahren Hebräer und ihre Nachfahren, die Juden, lange bevor sich Christen und später Moslems aufmachten, neue monotheistische Religionen zu gründen.

Ein Faktum, das bis heute eine nie versiegende Quelle blutiger Auseinandersetzungen blieb. Frau Ammann empfahl mir ein Interview, das der israelischdeutsche Kulturjournalist Ofer Waldman der ARD gegeben hat, als Augenzeuge der Massaker in Israel.

„Wir befinden uns seit 7. Oktober in einem Albtraum, aus dem wir immer noch nicht erwacht sind. Mit jeder Stunde, die verging, ist das Grauen immer unvorstellbarer geworden – mit Bildern, mit Nachrichten, die die menschliche Vorstellungskraft zertrümmern. Mit einem Entsetzen, das auch kein israelisches oder deutsches oder arabisches Entsetzen ist, sondern ein menschliches Entsetzen vor diesem Zivilisationsbruch.“

Ja, auch Israel hat, dem Dauerterror ausgesetzt, Fehler begangen, vor allem mit Netanjahus aggressiver Siedlungspolitik, aber nichts davon kann rechtfertigen, dass die sogenannten Freiheitskämpfer der Hamas, im Namen Allahs, Babys enthaupten, alte Frauen erschießen oder unbewaffnete junge Leute massakrieren und damit jede Sure des Korans pervertieren.

Man kann nur hoffen, dass sich vor allem Gazas Jugend ( eine Million Minderjährige), die sich seit 16 Jahren von der theokratischen Diktatur der Hamas knebeln und als Schutzschild missbrauchen lassen musste, lossagt von ihren Geiselnehmern und begreift, dass eine Zerschlagung der Hamas- Strukturen ein erster Schritt zum Friedenspfad werden könnte. So lange nämlich in den Schulbüchern palästinensischer Kinder Israels Existenz geleugnet und seine Zerstörung beschworen wird, wird es keinen Frieden geben.

Reinhold Bilgeri

reinhold.bilgeri@vn.at

Reinhold Bilgeri ist Musiker, Schriftsteller und Filmemacher, er lebt als freischaffender Künstler in Lochau.