Rache über Nahost

Vorarlberg / 09.11.2023 • 07:30 Uhr
Rache über Nahost

Unter den vielen Gründen, die eine Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes so aussichtslos erscheinen lassen, ragt ein Umstand hervor: die unheilvolle Rolle der Rache. Kriegspsychologisch ist der seit Jahrzehnten dahinschwelende Konflikt eine nicht enden wollende Spirale von Gewalt und Vergeltung, von Angriff und Rache. Bei allen politischen Bemühungen wird die Hauptvoraussetzung jeder Lösung die Durchbrechung des Rachezyklus sein.
Rache ist aber keine einfache Emotion, sie ist vielfältig und widersprüchlich, nicht nur böse. Rache kann bitter und süß, zerstörerisch und tröstlich, mörderisch und triumphal, ja sogar gerecht und heilig sein. Von Schadenfreude und Revanche reicht sie über Heimzahlen und Vergelten zu Selbst- und Lynchjustiz, ja bis zu Blutrache und Rachekrieg. Rächen dient der Abschreckung und Selbstverteidigung, der Bestrafung und dem Erlangen von Genugtuung und neuem Selbstwert. Das eigentliche Ziel dieser tief im menschlichen Wesen verankerten Emotion ist aber die Wiederherstellung des verletzten Gerechtigkeitsgefühls. Rache will Gerechtigkeit – und schafft neues Unrecht.
Doch wie soll man mit Rache umgehen? Wenn jeder sein Gerechtigkeitsgefühl für das einzig richtige hält und seine Stärke durch noch härtere Sanktionen demonstriert, entstehen Rachezyklen. Diese breiten sich auf immer größere Gruppen aus und können über Jahrhunderte dauern. In jenem Kulturkreis, in dem der schon so lange dahinschwelende Krieg wieder akut geworden ist, wurde vor Jahrtausenden das Talionsprinzip entwickelt. Dessen fundamentaler Gedanke, dass zwischen Rache und dem Schaden, der dem Rächer ursprünglich zugefügt werden soll, ein Gleichgewicht herrschen muss, ist unter dem Bibelwort „Aug um Aug – Zahn um Zahn“ berühmt geworden. Im jetzigen Krieg wird nicht einmal dieser in der modernen Gesellschaft als barbarisch erklärte Rechtsgrundsatz eingehalten. Nach psychologischem Verständnis wäre eine Beendigung der Rachespirale nur möglich, wenn die Rache, so sie denn sein muss, weniger stark ausfällt als die ursprüngliche Schädigung. Dafür hat auch der amerikanische Präsident plädiert.

„Rache ist aber keine einfache Emotion, sie ist vielfältig und widersprüchlich, nicht nur böse.“

Die wahre Lösung aber wäre – welch frommer Wunsch – das Verzeihen. Denn wenn man anderen vergibt, verzeiht man auch sich selbst, weil man sich vom ganzen Rattenschwanz an Traumatisierung, Ungerechtigkeitsgefühl und Racheverlangen befreit. Denn Rache rächt sich. Wie sagte doch der Staatsmann und Philosoph Francis Bacon: „Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.“

Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard Haller ist Psychiater, Psychotherapeut

und früherer Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene.