Wenn Bäume sprechen könnten
Die kleine Rottanne streckt ihre Zweige aus und dehnt den Stamm, dass die Rinde kracht. Aber das Kind sieht sie nicht. Es himmelt so eine hochgewachsene Nordmanntanne an, eh klar! Wie Regentropfen perlen die Argumente des Vaters vom Töchterlein ab: Das Wohnzimmer viel zu klein? Unmöglich! Der Stamm zu dick? Aber den sieht man doch gar nicht unter den buschigen Zweigen! Der Baum schlichtweg zu teuer? Das steht in des Vaters wunden Augen geschrieben. Sagen tut er’s nicht, weil ihm längst der entzückende Anblick seiner Tochter den Blick fürs Wirtschaftliche vernebelt hat.
Regelrecht verhärmt nimmt die kleine Rottanne wahr, wie der Schönling aus dem Norden erwählt, bezahlt und gepflückt wird. Dann aber steckt ihn der Verkäufer in eine Art Trommel, um den Baum am anderen Ende mit Schwung wieder herauszuziehen, nun allerdings in ein dickes Netz gebunden wie in Großmutters Stützstrümpfe. Alles Majestätische hat sich verflüchtigt. Und während sich der Papa ein Schnäpschen gönnt zur Beruhigung und das Fräulein Tochter zwei Katzen entdeckt hat, die jetzt ins Nirwana gestreichelt werden, lehnt der verpackte Nordmann unbeachtet an einer Stadelwand. Fertig zum Abtransport. Später stopft der Vater den Baum in den Wagen und biegt gewaltsam den Wipfel um, damit sich das noch irgendwie ausgeht.
Da lässt die kleine Rottanne ihre Äste sinken und findet ihren Platz in der siebten Reihe eigentlich recht komfortabel. Und könnte sie sprechen, sie raunte den Nachbarn zu, was Generationen von Schulkindern als vielleicht wichtigste Essenz fürs Leben mitnehmen: Dass das unscheinbare Dasein im Windschatten der Schönen und Vorlauten durchaus seine Vorzüge hat.
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